Schlüsselherz (German Edition)
in den geöffneten Sarg sehen. Sie las den Artikel nicht, sie hatte von den Grabräubern gehört, die scheinbar wahllos Leichen aus ihren Ruhestätten stahlen. Es wäre sicher das Klatschthema im Theater geworden, wenn nicht alle mit der Entführung Yasemines beschäftigt gewesen wären. Cera hatte die Idee, dass ein Zusamme n hang bestehen könnte, wieder verworfen. Puppen und organische Leichen – das passte nicht zusammen.
Die Dame in Pistazie kehrte zurück und lehnte sich weit über den Tresen, um leiser sprechen zu können. „Wie ich sagte, Mr Charles wird nicht von uns beschäftigt und wurde es auch nie. Aber …“
„ Aber?“
Die junge Frau kicherte. „Er würde es gern. Vor einer Weile hat er sich sehr hartnäckig immer wieder als freier Journalist beworben, konnte den Chefredakteur aber nie von sich überzeugen.“
„ Lassen Sie mich raten“, sagte Cera trocken. „Zu oberflächliche Recherche.“ Was spielte dieser Nathaniel Charles nur für ein Spiel?
„ Das weiß ich leider nicht. Kann ich ansonsten noch etwas für Sie tun?“
Cera wies auf die Zeitung. „Darf ich eine davon mitnehmen?“
„ Aber gern.“
„ Auf Wiedersehen und vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.“
Cera riss sich zusammen, um nicht eilends aus dem Gebäude zu stürmen. Draußen faltete sie sofort die Zeitung auseinander und überflog die Texte beim Gehen. Der Wind fing sich in den großen Seiten und ließ sie knisternd flattern. Doch dann hatte Cera den A r tikel gefunden: Die paar oberflächlichen Zeilen über den Raub einer Keyman-Puppe. Yasemine. Nicht einmal ihr Name wurde genannt, als sei er nicht wichtig. Trauer, Wut und Sorge mischten sich in C e ras Brust. Und dazu kamen viele, viele neue Fragen. Denn unter dem Artikel stand auf diesem Blatt Papier nicht Nathaniel Charles‘ Name, sondern ein ganz anderer. Was bedeutete, dass dieser Mann Zeitu n gen fälschte, und zwar täuschend echt. Nun gut, er war Künstler, da fiel ihm das sicher nicht schwer. Aber warum tat er es?
Sie stieß entnervt die Luft aus. Blieb ihr etwas anderes übrig, als ihn zu fragen? Sie faltete die Zeitung zusammen und sah hoch. Vor ihr tat sich der Marktplatz auf. Menschen machten ihre Einkäufe, sie sah auch ein paar Puppen im typischen Angestelltengewand. Kinder jagten sich um die Stände, an denen es Gemüse, Obst, Käse und bi l lige, gefälschte Markenkleidung zu kaufen gab. Ein Mädchen von vielleicht fünf oder sechs Jahren stolperte über eines der Seile, mit denen die einfachsten Stände aus abgewetzten Planen mit Heringen im Boden verankert waren. Das Kind fiel und schlug sich das Knie auf. Ein dünner Faden Blut rann das schmale Schienbein herab und sickerte in das weiße Söckchen. Das Mädchen betrachtete das Blut erst still und fing dann an zu weinen. Cera stand am nächsten, daher lief sie auf die Kleine zu, um sie zu trösten, doch bevor sie sie e r reicht hatte, schob eine mollige Frau sie grob beiseite und nahm das Kind in den Arm. Es war die Mutter des Mädchens, wie Cera aus ihren Worten heraushörte. Sie murmelte ein Kinderlied von einem weichen, warmen Kätzchen, pustete nach jeder Zeile auf die kleine Wunde und streichelte dem Mädchen tröstend übers Haar. Das Kind hörte auf zu weinen, die Mutter sang liebevoll die Strophe zu Ende und Cera fühlte sich plötzlich kratzig und kalt.
Ihr Blick fiel auf ein Podest, das man am Rande des Marktplatzes aufgebaut hatte. Darauf stand eine Art Kanzel, behangen mit Plak a ten, die die Menschen dazu aufforderten, zu den Gottesdiensten zu gehen. Ein Pfarrer in schwarzem Talar und weißem Beffchen um den Hals sortierte seine Notizen. Cera musste an die Grabräuber denken. Vielleicht kämpfte die Kirche hier um ihren Ruf. Seit einer Weile echauffierten sich viele Bürger, dass die Friedhöfe und Ki r chen unzureichend bewacht wurden, es wurde viel gestohlen und zerstört.
Sie trat etwas näher, als der Pfarrer die schwatzenden Zuhörer b e grüßte und, für sie nur halb verständlich, den Grund der Kundg e bung kundgab .
Cera verstand nur Bruchstücke. „Magische … Leblose … nicht gottgewollt.“
Was immer er predigte, die Menschen hörten ihm zu und appla u dierten, wenn er zu diesem Zweck pausierte. Als er wieder redete, wurde es stiller um die Kanzel und Cera konnte nun besser zuhören.
„ Ich verstehe, liebe Gemeinde, dass ihr nach einer Erleichterung für den Alltag sucht und zu diesem Zweck künstliche Wesen nutzt. Doch versteht auch mich, wenn ich euch
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