Schluesselmomente - Erfahrungen eines engagierten Lebens
die Sache kurz: »Für Speis und Trank sag ich Dank. Amen.« Solche immer gleichen Rituale langweilten mich. Was mich jedoch faszinierte, waren die katholischen Kirchenfeste mit ihrer sinnlichen Pracht und ihrem überwältigenden Gemeinschaftsgefühl. Diese Traditionen vermittelten mir ein Gefühl von Geborgenheit und Glück. Wenn ich auf der Fronleichnamsprozession die Blumen streuen durfte, so läutete das in meinem Empfinden den Frühling ein. Die Weihnachtszeit vermittelte mir das besondere Gefühl erwartungsvoller Freude und friedlicher familiärer Geborgenheit. Diese Wärme war keine Frage von Geschenken. Im Krieg lag manchmal auch nur ein Blumenkohl auf dem Gabentisch, es gab ja nichts. Doch meiner Mutter gelang es, aus nichts eine liebevolle Atmosphäre zu schaffen. In
dunklen Stunden sang sie mit uns die alten Lieder und sprach mit uns über die Bedeutung dieses christlichen Festes.
Kein Zweifel: Die Gemeinschaft im Glauben und die Verbundenheit in Traditionen kann uns ein hilfreiches Wertegerüst vermitteln. Hier erfahren wir, was Menschlichkeit und Teilhabe an einer Gemeinschaft bedeuten. Solche Gemeinschaftsrituale sind gelebte Geschichte. Dieses Kulturgut wurde über Jahrhunderte hinweg von Generation zu Generation weitergegeben, es hat unsere soziale und persönliche Identität geprägt. Doch die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, die Erfahrungen zweier verheerender Weltkriege und ihrer Folgen haben das christliche Menschenbild in Europa nachhaltig erschüttert.
Je älter ich wurde, umso mehr wuchsen auch bei mir die Zweifel. Mein katholischer Kinderglaube lieà mich in vielen Fragen allein, auf die Herausforderungen meines jungen Erwachsenenlebens konnte er mir keine befriedigenden Antworten vermitteln. Ich erinnere mich noch gut daran, wie verzweifelt ich wegen der schweren Asthmaerkrankung meiner Tochter Brigitte war, die sie beinahe das Leben gekostet hätte. Wie Millionen anderer Menschen auch stellte ich mir die Frage: Warum lässt Gott dieses Leiden zu? Es ist die uralte Frage des biblischen Hiob, die Verzweiflung an Gott, die uns in schweren Lebensstunden überkommt. Es ist eine Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt, eine Frage, die jeder Mensch für sich, mit seinem Glauben und seinen Ãberzeugungen beantworten muss.
Manches von dem, was die katholische Kirche heute verkörpert, sehe ich kritisch. Die aktuellen Debatten um Verfehlungen der Kirche machen deutlich, dass auch diese
Institution der Erneuerung und Weiterentwicklung bedarf. Doch bei aller Kritik an der Institution der Kirche wurde mir mit den Jahren auch immer deutlicher, dass ohne eine geistige Orientierung, ohne ein lebensbestimmendes Wertegerüst eine soziale Gemeinschaft nicht überleben kann. Diese Form von Werteorientierung vermitteln alle Religionen weltweit, jede auf ihre eigene Weise.
Auf meiner ersten Reise nach Israel ist mir der enge Horizont meiner katholischen Erziehung schlagartig bewusst geworden. Wie in keiner anderen Stadt der Welt finden sich in Jerusalem die Wurzeln dreier Weltreligionen. Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich hier geboren worden wäre? Niemand kann sich aussuchen, wo er zur Welt kommt und aufwächst. Wir werden in unser Leben hineingeworfen und müssen das Schicksal seiner religiösen, politischen und sozialen Umstände annehmen. Aber sollte uns nicht genau diese menschliche Bestimmung Anlass genug sein für unbedingte Toleranz in Glaubensfragen?
In Jerusalems früherem Bürgermeister Teddy Kollek und seinem unermüdlichen Bemühen, den Menschen seiner Stadt, unabhängig von ihrer religiösen Bindung, zu mehr sozialer Sicherheit, kultureller Offenheit und persönlicher Würde zu verhelfen, fand ich ein groÃes Vorbild. Auch bei meinen späteren Reisen durch den asiatischen Kontinent sah ich vieles, was mich zutiefst beeindruckt hat und nachhaltig beschäftigte. Mein Mann und ich haben in vielen Gesprächen über unsere Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen mit der jüdischen, muslimischen, buddhistischen und hinduistischen Welt diskutiert. 57
Durch die Globalisierung der letzten Jahrzehnte begegnen sich unterschiedliche Kulturen und Religionen in früher nicht vorstellbarer Intensität. Menschen unterschiedlichster
Herkunft, verschiedenster sozialer Prägung und religiöser Orientierung leben und arbeiten eng zusammen. Mehr denn je stellt sich die Frage, welche
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