Schluß mit cool (German Edition)
voller Nippes und Stickereien und lauter so Zeugs –, als mein Bruder seinen Kopf zur Tür hereinsteckte. »Und?« sagte er, gelöst vom Scotch und was er sonst noch intus hatte. »Geht’s dir gut mit der ganzen Geschichte?«
Das berührte mich. Echt. Auf dem Hinflug hatte ich einen bösen Grant im Hinterkopf gespürt – auf Philip natürlich, den erfolgreichen Pfundskerl, an dem unser Vater mich immer gemessen hatte – und damit gerechnet, daß mein Bruder ein Arschloch wäre und ich den ganzen Tag mit lauter Arschlochgeschichten zu tun hätte, aber so war das gar nicht. Er streckte mir die Hand entgegen. Er war Arzt. Kannte sich aus mit menschlichen Schwächen und Süchten, und er wußte einiges über seinen kleinen Bruder, nahm Anteil, er nahm richtig Anteil an mir. »Klar doch«, mehr brachte ich nicht heraus, aber ich hoffte, daß mein Tonfall noch viel mehr als das vermittelte.
»Gut«, sagte er. Er war eingerahmt vom Licht, das aus dem Flur fiel, und seine tiefen Augenhöhlen, das zerfurchte Gesicht und die flachen, glänzenden Augen verliehen ihm eine Ausstrahlung von Ruhe und Weisheit, die mich an unseren Vater in seinen guten Tagen erinnerte.
»Dieses Mädchen«, begann ich, so recht inspiriert von der Vertraulichkeit dieses Augenblicks, »die letzte Patientin, die heute abend gekommen ist...«
Sein Ausdruck veränderte sich. Jetzt betrachtete er mich fragend und distanziert, als sähe er mich durch das falsche Ende eines Fernrohrs. »Was für ein Mädchen? Wovon redest du?«
»Sah noch sehr jung aus, im weißen Parka, mit Fellstiefeln. Die letzte meine ich. Die letzte, die reinkam. Ich hab nur so überlegt, ob, äh, ich meine, was sie wohl für ein Problem hatte – ob sie, du weißt schon, für einen Eingriff oder so...«
»Hör mal zu, Rick«, sagte er darauf, und seine Stimme kam gleich wieder aus dem Gefrierschrank, »ich bin bereit, dir hier eine Chance zu geben, nicht nur Dad zuliebe, sondern auch um deiner selbst willen. Aber um eines bitte ich dich: Laß meine Patienten in Ruhe. Und im Grunde ist das gar keine Bitte.«
Am nächsten Morgen regnete es, ein kalter Regen, der auf der Motorhaube gefror und den Gehsteig vor dem Haus in Eispudding verwandelte. Ich fragte mich, ob das schlechte Wetter die Jesusjünger abschrecken würde, aber logisch waren sie da, in gelben Öljacken und grünen Gummistiefeln, dankbar in ihr Leid versunken. Niemand ging auf unseren Wagen los, als wir auf den Parkplatz einbogen. Sie standen nur herum, zu acht waren sie heute, fünf Männer und drei Frauen, und sie musterten uns voller Haß. Als wir ausstiegen und der Eisregen auf uns niederprasselte, traf mein Blick diesen bärtigen Sack, der auf das Mädchen im weißen Parka losgestürmt war. Ich wartete, bis ich seiner Aufmerksamkeit völlig sicher war, und als er gerade irgendeinen heiseren jesusmäßigen Vorwurf herausbrüllen wollte, zeigte ich ihm cool den Finger.
Wir waren die ersten in der Klinik, wohl weil die Straßen so glatt waren, und sobald mein Bruder in seinem Behandlungszimmer verschwunden war, ging ich schnurstracks zur Anmeldung und blätterte im Terminkalender eine Seite zurück. Der letzte Name, der für den Vortag um 16.30 Uhr eingetragen war, starrte mir entgegen, in sauberen Blockbuchstaben mit blauem Kugelschreiber festgehalten: »Sally Strunt«, stand da, und darunter war eine Telefonnummer notiert. Ich brauchte exakt zehn Sekunden, dann war ich im hinteren Zimmer und schlüpfte unschuldig in meinen weißen Kittel. Sally Strunt, flüsterte ich vor mich hin, Sally Strunt, immer wieder. Ich kannte keine Frau, die Sally hieß – es war ein altmodischer Name, ein Hinterwäldlername, Dick und Jane und Sally, und weil er altmodisch und hinterwäldlerisch war, paßte er irgendwie perfekt auf einen Teenager mit Problemen im ekligen, eisigen, eintönigen Nabel des Mittelwestens. Keine Amber aus downtown L.A. , keine Crystal oder Shanna – eine echte Sally aus Detroit, und das gefiel mir. Ich hatte das Gesicht gesehen, zu dem der Name gehörte, und ich hatte die Mutter dieses Gesichts gesehen. Sally, Sally, Sally . Ihr Name summte in meinem Kopf, während ich mit Fred und den Schwestern herumalberte und automatisch meine Arbeit verrichtete, die mir schon jetzt so beengend und geistabtötend vorkam wie eine Gefängnisstrafe.
An diesem Abend entschuldigte ich mich nach dem Essen und ging zu Fuß die sechs winterkalten Querstraßen zum nächsten Laden. Ich kaufte Schoko-Erdnüsse für die Jungs,
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