Schluß mit cool (German Edition)
gehen, zum Beispiel? Aber Fred war keine große Hilfe. Er seufzte nur, knabberte an dem schlabbrigen Rest seines Burritos und meinte: »Da gewöhnst du dich dran.«
Darüber dachte ich nach, während der Nachmittag verstrich, doch dann versagte mein Verstand allmählich wegen der Zeitverschiebung und wegen meines grundsätzlichen Elends, und ich ließ meinen Körper die Kontrolle übernehmen. Ich schrubbte leere Flaschen und Reagenzgläser mit Clorox aus, etikettierte und archivierte die vollen in den Regalen entlang der Wände, stand neben Fred und sah ihm zu, wie er Urin auf kleine Lackmuspapierstreifen tropfen ließ und in einem Protokollbuch etwas notierte. Mein weißer Kittel wurde immer dreckiger. Hin und wieder kam ich zu mir, wenn ich mich mal im Spiegel über den Becken sah: der entlarvte verrückte Wissenschaftler, der Babymörder, der Spüler von Reagenzgläsern und Absonderer von Urin, und dann stieß ich ein ironisches Lachen über mich selbst aus. Allmählich wurde es dunkel, Fred verabschiedete sich, und ich wurde mit Scheuerlappen und Klobürste vertraut gemacht. Etwa um diese Zeit legte ich eine Zigarettenpause am einzigen Fenster des Raums ein und erhaschte dabei einen Blick auf eine der letzten verspäteten Patientinnen des Tages, die auf dem Gehsteig herbeihastete, dicht hinter ihr eine mufflige ältliche Frau, deren Miene praktisch herausbrüllte: Ich bin ihre Mutter!
Das Mädchen war sechzehn, siebzehn, bleich wie eine Blumenzwiebel, und man sah ihr gar nichts an, jedenfalls nicht in dem großen weißen Parka, den sie übergeworfen hatte. Sie wirkte verängstigt, ihr schmaler Mund war zusammengekniffen, der Blick starr auf ihre Füße gerichtet. Sie trug schwarze Leggings, die aus den Falten des Parkas sprossen, und Fellstiefeletten, die an Hausschuhe erinnerten. Ich sah zu, wie sie auf den wiegenden Staken ihrer Beine durch die tote Welt glitt, auf ihrem Gesicht lag eine verwöhnt schmollende, kreidebleiche Grazie, und sie rührte etwas in mir an, das seit langer Zeit unter einem Berg von körnigen gelblichweißen Crack-Bröckchen begraben gewesen war. Vielleicht kommt sie ja nur zur Untersuchung, dachte ich, vielleicht ist es das. Oder sie macht die ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht – beziehungsweise sie steht kurz davor –, und ihre Mutter geht in weiser Voraussicht mit ihr zum Frauenarzt. Eins von beidem wollte ich mir einreden. Bei diesem Mädchen mit den fließenden Bewegungen und dem niedergeschlagenen Blick, in dem so viel Hoffnung und Kummer lag, wollte ich nicht an einen »Eingriff« denken.
Sie hatte die Klinik beinahe erreicht, als sich auf einmal die Zombies regten. Von dort, wo ich stand, konnte ich die Vorderseite des Hauses nicht sehen, und die Jesusjünger hatte ich außerdem schon halb aus meinem Bewußtsein ausgeblendet, das ohnehin recht trübe war. Doch jetzt bahnten sie sich krachend wieder einen Weg in das Gesamtbild, gleich hier an der Ecke des Gebäudes, wogende Schultern und Köpfe und Transparente, und vor allem einer. Ein Schatten, der aus der Masse auftauchte und sich gleich darauf in einen hünenhaften bärtigen Eiferer mit schnappenden Zähnen und Augen wie hartgekochte Eier verwandelte. Er stürmte direkt auf das Mädchen und dessen Mutter zu, pfeilgerade wie ein Torpedo, ich sah, wie sie vor ihm zurückzuckten und wie sein Kopf wütend herumfuhr, und dann huschten sie um die Ecke und waren aus meiner Sicht.
Ich war wie vom Donner gerührt. Das war nicht recht, dachte ich, und ich wollte nicht wütend oder deprimiert werden oder emotional reagieren – immer klaren Kopf behalten, das bringen sie einem in der Reha bei –, aber ich mußte einfach meine Zigarette ausdrücken und leise hinaus in den Korridor treten, der am ganzen Gebäude entlang verlief und mir freie Sicht auf die Eingangstür bot. Fast gegen meinen Willen bewegte ich mich vorwärts, meine Füße waren wie Spielzeugwaggons auf Schienen, und ich war gerade in der Mitte des Korridors, als die Tür aufging, flüchtig den schwindenden Tag und die toten Stöcke der Bäume sehen ließ, und da stand sie plötzlich, blaß in ihrem blaßhellen Parka, und ihr Gesicht noch um zwei Nuancen bleicher. Wir wechselten einen Blick. Ich weiß nicht, was sie in meinen Augen sah – Schwäche, Hunger, Angst –, aber ich weiß, was ich in ihren sah, und in diesem Blick lag etwas so Brennendes und so immerwährend Trauriges, daß mir klar wurde, daß ich nie wieder einen Moment der Ruhe hätte, bis
Weitere Kostenlose Bücher