Schluß mit cool (German Edition)
stieß ein neuer nach und besetzte den freien Platz. Wir konnten weder vor noch zurück. »Ihr Nachbar tötet Babys!« schrien sie. »Dr. Beaudry ist ein Mörder!« und: »Killt die Killer, nicht die Kinder!« Ich versuchte gelassen zu bleiben, meine Reha und den Knast und die viel größeren Probleme meines Lebens im Blick zu behalten, aber es ging nicht. Ich hielt es einfach nicht aus. Ich konnte nicht mehr.
Ehe ich wußte, was ich tat, war ich ausgestiegen. Das erste Gesicht, das ich sah, gehörte einem etwa Achtzehnjährigen – einem harten Burschen mit hervortretenden Adern am Hals in einer Lederjacke, die er trotz Eisregen weit offen trug, um ein weißes T-Shirt und ein Kettchen mit goldenem Kruzifix zur Schau zu stellen. Er stand direkt vor mir, praktisch vor meiner Nase, und brüllte »Jesus! Jesus!«, und er wirkte ehrlich überrascht, als ich ihm mit voller Wucht eine verpaßte, so daß er rückwärts gegen zwei plumpe Frauen flog, die farblich aufeinander abgestimmte Schals und Ohrenschützer trugen. Ich wandte mich gleich dem nächsten zu – ein kleiner Giftpilz, der aussah, als hätte er die letzten vierzig Jahre lang eingesperrt in einem Schrank verbracht – und stieß ihn vom Auto weg. Ich hörte Geschrei, sah die Bullen durch die Menge heranwaten, und dann starrte ich auf einmal dem großen Typen ins Gesicht, dem bärtigen Oberrüpel persönlich, und er war mir so nahe, daß ich genau roch, was er gefrühstückt hatte. Inmitten des ganzen Chaos stand er ungerührt neben dem Kotflügel unseres Wagens und richtete ein sattes, breites, falsches Jesusjüngerlächeln auf mich, in dem so viel Haß lag, wie ich es noch nie gesehen hatte, dann kniete er blitzschnell nieder und kettete sich mit Handschellen an unsere Stoßstange.
Das war zuviel für mich. Jetzt wollte ich ihn zum Märtyrer machen, ich wollte ihn auf der Stelle tottrampeln, mitten auf der Einfahrt und vor den Augen der ganzen Welt, und wer weiß, was passiert wäre, hätte Philip mich nicht von hinten zurückgerissen. »Rick!« rief er immer wieder. »Rick! Rick!« Und dann zerrte er mich die Auffahrt hinauf und rein ins Haus. Das verschreckte, bleiche Gesicht von Denise erschien in der Tür, der Mob draußen schrie nach Blut und ging dann nahtlos über in ein Choralgejammer, als stünden sie in irgendeiner Kathedrale.
In der Sicherheit des Flurs, die Tür hinter uns geschlossen und verriegelt, drehte sich mein Bruder zu mir um. »Bist du verrückt?« brüllte er, und man hätte meinen können, ich sei hier der Feind. »Willst du etwa zurück ins Gefängnis? Willst du vor Gericht? Was hast du dir bloß dabei gedacht – hast du irgendwas genommen, spinnst du deswegen so?«
Ich blickte beiseite, aber ich verspürte auch ihm gegenüber Mordlust. Sie pochte in meinen Adern, zusammen mit dem Desoxyn, einem Appetitzügler, den ich in der Klinik hatte mitgehen lassen. Am Ende des Gangs sah ich meine Neffen die Köpfe zur Tür hinausstecken. »Du kannst dich doch von diesen Typen nicht herumschubsen lassen«, sagte ich.
»Sieh mich an, Rick«, sagte er. »Sieh mich an!«
Ich zappelte unruhig herum, war total angespannt und hob widerwillig den Kopf. Auf einmal fühlte ich mich wieder wie ein kleiner Junge: Rick der Ladendieb, Rick der Kiffer, Rick der Versager.
»Du spielst ihnen nur in die Hände, begreifst du das nicht? Die wollen uns ja provozieren, die wollen doch nur, daß du auf sie losgehst. Damit bringen sie dich hinter Gitter, und noch dazu kriegen sie ihre Schlagzeilen.« Seine Stimme überschlug sich. Denise wollte etwas sagen, doch er bedeutete ihr mit einer Handbewegung zu schweigen. »Du bist wieder auf Drogen, stimmt’s? Was nimmst du diesmal – Kokain? Marihuana? Hast du dir irgendwas in der Klinik geklaut?«
Draußen konnte ich sie hören mit We Shall Overcome , und das war wirklich eine grausame Parodie – hier ging es nicht um Befreiung, sondern um Faschismus. Ich antwortete nicht.
»Hör zu, Rick, du bist ein Exsträfling, daran mußt du immer denken, bei jedem kleinsten Schritt, den du tust. Ich meine, was hast du dir vorhin da draußen gedacht – daß du mich beschützen mußt oder was?«
»Exsträfling?« sagte ich erstaunt. »Das bin ich für dich? Ich glaube das einfach nicht. Ich bin kein Exsträfling. Du stellst dir da wohl einen Typen aus irgendeinem Film vor oder aus einer Doku im Fernsehen. Ich bin einer, der mal einen Fehler gemacht hat, einen kleinen Fehler, und ich habe keinem Menschen jemals weh getan.
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