Schluß mit cool (German Edition)
Ich bin dein Bruder, falls du das noch weißt.«
Hier schaltete sich Denise ein. »Philip«, trällerte sie, »komm schon, Philip. Du bist nur nervös. Wir sind alle nervös.«
»Du hältst dich da raus«, sagte er und sah sie nicht einmal an. Er fixierte mich weiterhin mit seinen rasierwasserblauen Augen. »Ja«, sagte er nach einer Pause, »du bist mein Bruder, aber das mußt du mir auch beweisen.«
Im nachhinein ist mir klar, daß das mit dem Desoxyn ein Fehler war. Vor genau so etwas hatten sie uns immer gewarnt. Aber es war kein Koks, und ich brauchte einfach was zum Aufpeppen, ein bißchen Antrieb bei der Arbeit, und wenn er nicht wollte, daß mich die Versuchung anfiel, wieso ließ er den Schlüssel zum Giftschrank dann mitten in dem muschelförmigen Aschenbecher auf seinem Schreibtisch liegen? Exsträfling . Ich war verletzt und wütend und zog mich in mein Zimmer zurück, bis Philip nach einer Stunde anklopfte und mir sagte, daß die Polizei den Mob endlich zerstreut hätte. Schweigend fuhren wir zur Arbeit, und Philips Opern nagten an meinen Nerven wie Hunderte von kleinen Gebissen.
Philip merkte es nicht, aber etwas war anders an mir, als ich wieder in den Wagen stieg – etwas, das niemandem auffallen konnte, es sei denn, er hätte den Röntgenblick. Ich war nämlich bewaffnet. Im Bund meiner grauen Jeans, verdeckt von meinem weiten Hemd, so daß man ihn nicht sah, steckte der harte schwarze Kolben eines Revolvers, den ich einer Frau namens Corinne abgekauft hatte, als ich mich mal besonders paranoid fühlte. Ich hatte damals viel Geld in meiner Wohnung rumliegen, und es gingen Leute ein und aus – keine durchgeknallten Typen, niemand, den ich nicht kannte oder der nicht zumindest der Freund eines Freundes war, trotzdem war ich ziemlich nervös. Corinne kam ab und an die Freundin meines Mitbewohners besuchen, und sie verkaufte mir das Ding – einen Achtunddreißiger Special – für dreihundert Mäuse. Sie brauche den Revolver jetzt nicht mehr, sagte sie, und ich wollte gar nicht nachdenken, was das heißen könnte, also kaufte ich ihn ihr ab und versteckte ihn unter dem Kopfkissen. Geschossen hatte ich damit nur einmal, irgendwo im Tujunga Canyon, trotzdem war ich immer froh, ihn dabeizuhaben. Inzwischen hatte ich ihn eigentlich fast vergessen, aber als ich meine Sachen aus dem Lagerraum geholt und zu Philips Haus hatte schicken lassen, war er auf einmal wieder da, in einer Schachtel mit CD s versteckt, wie ein giftiges Insekt, das sich unter einem Stein verbirgt.
Wie ich mich fühlte, ist schwer zu erklären. Es hatte mit Philip zu tun – Exsträfling, das tat echt weh – und mit Sally und der Klinik und dem ganzen Jesusgejeire. Ich wußte nicht genau, was ich anstellen würde – gar nichts, hoffte ich wenigstens –, andererseits war mir klar, daß ich mir keine Scheiße von irgendwem gefallen lassen würde, und ebenso, daß Philip es offenbar nicht drauf hatte, sich selbst zu beschützen, ganz zu schweigen von Denise und den Jungs und all den kummervollen angebumsten Teenager-Sallys dieser Welt. Das war alles. Das war’s. Weiter reichte mein Denken nicht. Ich betrat die Klinik an diesem Morgen nicht anders als während der vergangenen anderthalb Wochen, und niemand merkte den Unterschied.
Ich schrubbte die Klos, putzte die Fenster, brachte den Müll raus. Irgendeine Blutprobe kam von einem anderen Labor rüber – wir testeten ja nur Urin –, und Fred zeigte mir, wie man die Ergebnisse las. Ich debattierte Schlagtechniken beim Baseball mit Schwester Tsing und die Aussichten auf einen baldigen Frühling mit Schwester Hempfield. Zu Mittag ging ich in einen Imbiß, wo ich mir einen Hackbraten, zwei Bier und Pfefferminzbonbons bestellte. Ich überlegte, ob ich ein letztes Mal bei Sally anrufen sollte – womöglich hatte sie sich von der Schule heimschicken lassen, mit Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, irgendwas in der Richtung, und ich könnte vielleicht die Mauer, die sie zwischen uns hochgezogen hatte, niederreißen und mit ihr reden, wirklich zum erstenmal mit ihr reden –, aber als ich dann in der Telefonzelle stand, hatte ich plötzlich keine Lust mehr. Auf dem Rückweg zur Klinik grübelte ich darüber nach, ob sie einen Freund hatte oder ob es nur eine dieser zufälligen Begegnungen gewesen war, ein Blind Date, ein Autorücksitz – oder sogar eine Vergewaltigung. Oder Inzest. Die Stimme ihres Vaters hätte die eines Kinderschänders sein können, ohne weiteres – und woher
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