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Schluß mit cool (German Edition)

Schluß mit cool (German Edition)

Titel: Schluß mit cool (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C Boyle
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Hand, aber es war keine warme Hand, sie gab kein Gefühl von Geborgenheit und Liebe – sie erinnerte eher an etwas, das man bei Frost aus der Erde gegraben hatte. Noch war sie nicht dazu gekommen, ihm zu sagen, was sie an diesem Nachmittag um 14.33 Uhr erfahren hatte, eine ganz besondere Neuigkeit, ein Geheimnis, magisch und ausdehnungsfähig wie ein Laib Brot, der im Ofen aufgeht. Ein anderer Typ des Mediziners hatte ihr die Neuigkeit überbracht, eine Ärztin, die sich von der verkniffenen, zornig aussehenden älteren Rednerin auf der Tribüne stark unterschied, eine dunkelhaarige, feenhafte junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit offener, glückspendender Miene und gratulierendem Blick, ganz in Weiß gekleidet wie eine Traumgestalt.
    Sie gingen schweigend zum Auto. Der vom Meer heranziehende Nebel zeichnete die Silhouetten der Bäume neu, die Straßenlampen warfen weiches Licht. Sean wollte einen Hamburger – und vielleicht ein Bier –, also hielten sie in der Nähe bei einer Grillkneipe, die die Studenten noch nicht entdeckt hatten, und sie sah ihm beim Essen und Trinken zu, während der Fernseher über der Bar Bilder von den Kriegsgreueln auf dem Balkan, von Routinebombardements im Irak und die letzten Neuigkeiten vom Eisenbahnmörder zeigte. Zwischen Werbespots für Kleinlaster, die offenbar imstande waren, Steilküsten hinaufzufahren und Flüsse zu durchqueren, wurde das Gesicht des Mörders gezeigt, das Polizeifoto eines kleingewachsenen Latinos mit zwei halben Schnurrbärtchen und abgestorbenen Augen, die ihm wie fremde Artefakte im Kopf steckten. »Siehst du den?« fragte Sean und nickte in Richtung Bildschirm, mit der einen Hand den halb aufgegessenen Hamburger, mit der anderen das Bier gepackt. »Davon reden Brinsley-Schneider und die anderen. Glaubst du vielleicht, dieser Typ da macht sich viel Gedanken über die Unantastbarkeit menschlichen Lebens?«
    Können wir uns Mitleid leisten? Melanie hörte die dünne schwirrende Stimme der Rednerin im Hinterkopf, und dabei sah sie ihr hartes, blasses Napfkuchengesicht vor sich, das im Scheinwerferlicht erstarrt war, als jemand von hinten »Nazi!« schrie. »Ich weiß sowieso nicht, weshalb wir uns solche Sachen anhören müssen«, sagte sie. »Letztes Jahr war diese Vortragsreihe viel – wie soll ich sagen, ›belebender‹? Erinnerst du dich noch an die Frau, die dieses Buch über Bienenzucht geschrieben hatte? Und dieser alte Professor – wie hieß der noch? –, der mit dem Referat über Yeats und Maud Gonne?«
    »Stevenson Elliot Turner. Emeritierter Professor an der Englischen Fakultät.«
    »Genau«, sagte sie, »den meine ich, und wieso können wir uns nicht wieder mehr solche Sachen anhören? Heute abend – ich weiß nicht, die Frau war so deprimierend. Und so verkehrt.«
    »Machst du Witze? Turner ist doch die reinste Mumie – und sein Referat war geradezu lähmend. Denselben Text hat er wahrscheinlich schon vor dreißig Jahren im Englisch-Grundkurs vorgetragen. Brinsley-Schneider ist immerhin kontrovers. Sie hält einen wenigstens wach.«
    Melanie hörte ihm nicht zu, und sie wollte auch nicht streiten – oder debattieren und diskutieren. Sie wollte Sean – mit dem sie nicht verheiratet war, noch nicht, weil sie warten mußten, bis er seinen Abschluß hatte – erzählen, daß sie schwanger war. Aber sie konnte es nicht. Sie wußte schon, was er dazu sagen würde, und das würde weitgehend nach Dr. Toni Brinsley-Schneider klingen.
    Sie sah, daß sein Blick kurz zum Fernseher wanderte und dann wieder zurück zu dem Hamburger in seiner Hand. Er fletschte die Zähne und nahm einen Bissen, die Nasenlöcher weit geöffnet, die Kiefermuskeln heftig arbeitend. »Wir wohnen doch genau an den Bahngleisen«, sagte Melanie und wechselte das Thema. »Meinst du eigentlich, wir müßten uns Sorgen machen?«
    »Was meinst du?«
    »Wegen des Eisenbahnmörders.«
    Sean musterte sie. Er war in Debattierlaune, in Heruntermachlaune, das sah sie in seinen Augen. »Der ermordet doch keine Eisenbahnen, Mel«, sagte er, »er ermordet Menschen. Und ja, jeder muß sich Sorgen machen, jeder auf diesem Planeten. Hast du denn auch nur die Hälfte von dem gehört, was Brinsley-Schneider vorhin sagte? Da würde es mich nicht überraschen, wenn jeder dritte da draußen auf der Straße ein Serienmörder wäre. Wir sind einfach zu viele, Mel, reden wir uns nichts ein. Glaubst du vielleicht, die Lage wird sich bessern? Findest du etwa, die Lage ist jetzt besser als damals in

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