Schluß mit cool (German Edition)
Stiefel auf sie ein, bis ich vor Anstrengung keuchte. »Sally!« rief ich. »Sally, ich komme schon!«
Sie war bis zur Ecke des Gebäudes gelangt, wo sie reglos neben ihrer Mutter vor dem Meer aus Menschen stand. »Jesus liebt dich!« rief irgendwer, und die Menge nahm es auf, bis meine Stimme in dem Gejammer unterging, ausgelöscht vom immerwährenden Jesusgewäsch. »Dich werden wir uns merken, Bruder«, sagte der Lederjackentyp und blickte aus seinen funkelnden blauen Augen zu mir hoch. »Paß besser gut auf, wer hinter dir geht.«
Sally war da. Jesus war da. Hände griffen nach mir, schlangen sich um meine Beine, so daß ich mich nicht mehr rühren konnte, gefangen in menschlichem Treibsand. Der große Kerl tauchte aus dem Nichts auf, bewegte sich sehr behende, huschte durch die reglosen Körper wie der Schatten eines hoch am Himmel fliegenden Wesens, und als er an mir vorbeikam, berührte er mich kaum. Ich stand auf der dritten Stufe von oben und steckte fest, Stimmen johlten, Transparente wurden geschwenkt, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie er sich mit Handschellen an die Tür kettete und mich mit einem knappen Lächeln des Triumphes bedachte.
»Sally!« schrie ich. »Sally!« Aber sie hatte sich schon abgewandt, drehte mir bereits den Rücken zu, war in der Menge verschwunden.
Ich sah hinunter. Eine Frau preßte mein rechtes Bein an sich, als hätte sie es soeben zur Welt gebracht, und sie hatte den weggetretenen Blick der Crack-Raucher. Mein linkes Bein steckte im Griff eines Kahlkopfs, der Verkäufer in einem Werkzeuggeschäft hätte sein können und zu mir aufsah wie eine Kröte, die ich halb zerquetscht hatte. »Jesus!« zischten sie alle. »Jesus!«
Das Licht brannte in meinem Kopf, und mehr brauchte ich nicht. Ich griff in den Hosenbund und zog die Knarre heraus. Ich hätte jedem von ihnen eine verpassen können, aber die Frau kam zuerst. Ich bückte mich zu ihr hinunter, wo sie auf den harten Betonstufen lag, und drückte ihr den stupsnasigen Lauf ins Ohr, behutsam wie ein wahrer Heiler. Das Krachen ließ Jesus verstummen, ganz abrupt verstummen. In die Stille folgte der Werkzeugverkäufer als nächster. Dann wirbelte ich herum zu dem großen Sackgesicht mit Bart.
Es war so leicht. Es war gar kein Problem. Es war wie Babys ermorden.
Gefangene der Indianer
An diesem Abend lernten sie in der Vorlesung, daß Menschenleben entbehrlich war. Melanie hatte in stummem Schock dagesessen – einer Mischung aus Schuldgefühlen, Demütigung und Paranoia (und wenn sie nun jemand hier in der Menge entdeckte?) –, während Dr. Tony Brinsley-Schneider, die Bioethikerin aus Stanford, dem Auditorium mitteilte, daß sich Menschen, ebenso wie Schweine, Hühner und Guppys, ersetzen ließen. Nach Ansicht der Ärztin waren körperlich oder geistig Behinderte, Verbrecher, Frühgeburten und dergleichen als Unpersonen zu betrachten, deren Versorgung zu tragen der Gesellschaft nicht länger abverlangt werden konnte, insbesondere angesichts der menschlichen Fruchtbarkeit. »Wir sind ja nicht eben eine gefährdete Spezies«, sagte sie mit verkniffenem Lachen. »Ist Ihnen allen, die Sie brav und ernsthaft heute abend hier zuhören, eigentlich klar, daß wir soeben die Bevölkerungsgrenze von sechs Milliarden überschritten haben?« Sie saß in kampflustig zurückgelehnter Pose am Pult, ihre sparsam kleine Drahtlesebrille sandte Lichtblitze durch die Reihen der Studenten. »Will denn wirklich auch nur einer von Ihnen noch mehr Apartmenthäuser, noch mehr Ghettos und favelas , noch mehr Autos auf den Freeways? Noch mehr Behindertenbetreuungseinrichtungen um die Ecke von Ihrer Wohnung? In Ihrer Straße? Nebenan?« Ihr blitzender Blick packte sie alle. »Na, wollen Sie das?«
Die Leute rutschten auf den Sitzen herum, ein gedämpftes, feuchtes Geräuschgewirr, das wie das zarte Branden von Wellen an einem fernen Strand klang. Niemand antwortete – es war ein höfliches Publikum, ein liberales Publikum, das an freie Meinungsäußerung glaubte, ein Universitätspublikum, und außerdem war die Frage ohnehin nur des Effekts halber gestellt worden. Das Publikum würde während der folgenden Diskussion noch genug Gelegenheit bekommen, sich zu profilieren.
Sean saß gespannt neben Melanie, sein glänzendes Gesicht schien zufrieden. Er war auf halbem Wege zu seinem Doktor in Literaturtheorie, und die Theoretiker hatten sein Herz verhärtet: Dr. Brinsley-Schneider bestätigte ihm nur, was er bereits wußte. Melanie ergriff seine
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