Schluß mit cool (German Edition)
wie viele von denen wiederum sind verrückt genug – oder tollkühn genug, das Wort paßt hier wohl besser –, da hineinzugehen, wo es Haie gibt? Kann doch sein, daß von denen einhundert Prozent tatsächlich gefressen werden, und wir wohnen immerhin gleich neben den Gleisen.«
Wie zur Antwort ertönte der schrille Pfiff des Neun-Uhr-Zugs, als er noch zwei Häuserblocks vom Bahnübergang entfernt war, und dann das anschwellende Donnern der herannahenden Eisenbahn, das ungestüme Rattern der mahlenden Räder, und das ganze Zimmer erbebte unter der brausenden Wucht. Sean rollte mit den Augen und verschwand im Badezimmer. Als der Lärm verebbte und er sich wieder Gehör verschaffen konnte, steckte er noch einmal den Kopf durch die Tür. »Daran sind nur deine Indianer schuld«, sagte er.
»Mit den Indianern hat das nichts zu tun.« Sie wollte es nicht zugeben, obwohl er natürlich recht hatte – oder jedenfalls zum Teil. »Daran ist diese Brinsley-Schneider schuld, die du anscheinend so großartig findest. Brinsley-Schneider und ihre Eugenik und Euthanasie und die ganzen anderen mörderischen Eu-Wörter.«
Er hatte das Lächeln des Literaturtheoretikers in einem Raum voller Literaturtheoretiker aufgesetzt, jenes Lächeln, das ihn aussehen ließ wie eine Kröte mit einem überdimensionierten Insekt zwischen den Kiefern. »Die mörderischen Eu-Wörter?« wiederholte er. Dann wurde sein Tonfall milder und er sagte: »Na schön, wenn du dich besser fühlst, seh ich mal nach, ob alle Türen und Fenster richtig zu sind, okay?«
Sie sah wieder in ihr Buch. Weit weg in der Ferne hörte sie das ersterbende Rattern der letzten Waggons des Zuges. Ihr Leben veränderte sich, und warum konnte sie das nicht genießen? – warum sollte sie es nicht genießen?
Er stand immer noch in der Tür, sein Gesicht geprägt von den Falten und Furchen, die sich ihm im Laufe der vergangenen zweieinhalb Jahre höchster Ernsthaftigkeit eingegraben hatten. Er sah ganz so aus wie er selbst. »Okay?« fragte er noch einmal.
Am nächsten Tag mußte sie erst um zwölf zur Arbeit – sie war Assistentin im Katalogsaal der Universitätsbibliothek und hatte einen derart flexiblen Zeitplan, daß er praktisch schon Knoten schlug –, und nachdem Sean zu seiner Vorlesung aufgebrochen war, setzte sie sich vor den Fernseher, dem sie den Ton abgedreht hatte, um den Bericht der Lavina Eastlick zu lesen, die neunundzwanzig Jahre alt und Mutter von fünf Kindern war, als die Sioux im längst vergessenen Jahr 1862 einen Raubzug in der Nähe von Acton, Minnesota, unternahmen. Es hatte nur einen Augenblick der Vorwarnung gegeben, mehr nicht. Der erschrockene Ruf eines Nachbarn vor dem Haus, im ersten Morgengrauen, und plötzlich rannte Lavina Eastlick – eine junge Frau voller Zuversicht, in Melanies Alter, rüde aus dem Schlaf gerissen – barfuß durch das nasse Gras, noch im Nachthemd, ihre Kinder vor sich her scheuchend. Die Indianer holten sie bald ein und metzelten ihren Mann und die Kinder nieder, ebenso die Nachbarn und deren Kinder; nur die Frauen nahmen sie gefangen. Sie hatte zwei Schußwunden und konnte kaum stehen, geschweige denn gehen. Als sie stolperte und zu Boden sackte, schlug ihr ein Sioux-Krieger mit dem Gewehrkolben auf Kopf und Schultern und ließ die vermeintlich Tote liegen. Später, als die Indianer weg waren, konnte sie davonkriechen und sich im Gebüsch verstecken, den ganzen langen Nachmittag und die endlose Nacht hindurch. Die schwerverletzten Kinder – ihre eigenen und die der Nachbarn – lagen nicht weit von ihr im Gras dahingestreckt und jammerten um Wasser, doch sie konnte sich nicht rühren, um ihnen zu helfen. Am nächsten Nachmittag kehrten die Indianer zurück, um mit gespitzten Stöcken in den Wunden der Kinder zu stochern, bis ihre schauerlich gurgelnden Schreie verstummten und die Grillen in den Bäumen mit ihrem geistlosen Gezirpe die Leere füllten.
Was hätte Dr. Toni Brinsley-Schneider wohl davon gehalten? Vermutlich hätte sie die Indianer gelobt, weil sie die Nutzlosen und Schwachen eliminierten, die mit ihren zermalmten Gliedmaßen sowieso nur noch zu Krüppeln herangewachsen wären. Darüber dachte Melanie nach, als sie das Buch zuklappte und zu einer Standardgewaltszene auf dem Fernsehschirm aufsah, doch sobald sie auf den Beinen war, spürte sie, daß sie Hunger hatte, also strebte sie in Richtung Küche und dachte an einen Thunfischtoast mit gerösteten Sonnenblumenkernen und roten Paprikastreifen.
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