Schluß mit cool (German Edition)
unserer Jugend? Oder in der Jugend unserer Eltern? Es ist vorbei. Seien wir ehrlich.«
Irgendein schmalziger Oldie lief in der Musikbox – Frank Sinatra, Tony Bennett, einer von denen –, denn die Kneipe atmete jene Authentizität, nach der die Leute immer suchen, die Sorte Authentizität, die aus den Senkfüßen, den verwüsteten Gesichtern und den zirrhotischen Lebern der Stammgäste geradezu schrie, für die sie und Sean – mit neunundzwanzig beziehungsweise dreißig – ebensowenig authentisch wie Neugeborene waren.
Zu Hause zog sie ein Baumwollnachthemd an und ging mit einem Buch ins Bett. Sie fühlte nichts Besonderes, weder Glück noch Schmerz, noch Enttäuschung, nur die Symptome einer herannahenden Migräne. Das Buch hatte sie zwei Tage zuvor bei einem Privatflohmarkt entdeckt – Gefangene der Indianer: 15 Berichte aus erster Hand, 1750–1870 –, und sobald sie es öffnete, wurde sie in eine voyeuristische Welt aus Leid und Brutalität hineingerissen, die jeden ihr vorstellbaren Schrecken übertrumpfte. Von den Indianern gefangengenommen zu werden sei nicht so erstrebenswert gewesen, wie Sean abfällig bemerkt hatte, als er sie an jenem Abend voller Spannung lesen sah, ganz und gar nicht erstrebenswert. Hier gab es keine Begrifflichkeiten des politisch Korrekten, von Geschichtsrevision oder der Ethik der aggressiven Verdrängung des einen Volkes durch ein anderes – nein, es herrschte nichts als das heiße Blitzen von Mord und Racheaktion, das dumpfe Klatschen der Musketenkugel beim Aufprall auf einen Körper, das Eindringen von Messer und Tomahawk in nachgiebiges Fleisch. Zu sterben, ermordet zu werden, das eigene Bewußtsein, das Dasein, das Leben einzubüßen: dies bot Stoff genug für morbide Faszination, und sie konnte nicht genug davon bekommen.
Sean hatte sich fast ausgezogen, trug noch die Unterhose, die er Boxershorts vorzog, was sie aber eigentlich mit Jungen – kleinen Jungen, also mit Kindern – assoziierte, und als sie ihn über den Teppich tappen sah, auf dem Weg ins Bad und zu seinem abendlichen Ritual von Säubern, Knipsen, Zahnreinigen, Bürsten, Auszupfen und Rasieren, zuckte ihr der Gedanke durch den Kopf, daß sie noch nie eine intime Beziehung zu einem Mann – oder Jungen – in Boxershorts gehabt hatte. »Als man zum letztenmal von ihm gehört hat«, sagte Sean gerade, dabei blieb er stehen und sah sie über den Berg hinweg an, den die Bettdecke über ihren aufgestellten Knien bildete, »da war er irgendwo im Mittelwesten – nachdem er aus Texas weg ist, meine ich. Das ist weit entfernt von Kalifornien, Mel, und außerdem ist das Ganze doch total zufallsbestimmt...«
»Er steigt doch in Güterzüge – oder er springt auf, ist das nicht der Terminus dafür?« sagte sie und spähte über den Umschlag ihres Buches. »Er springt auf fahrende Güterzüge auf, Sean, und das heißt, er kann in vierundzwanzig Stunden praktisch überall sein – oder in achtundvierzig. Wie lange fährt man von Kansas nach Isla Vista? Zwei Tage? Oder drei?« Sie wollte ihm am liebsten von der Ärztin erzählen und davon, was die Ärztin gesagt hatte und was es für sie beide bedeuten würde, aber sie wollte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, wollte nicht mit ihm diskutieren müssen, nicht jetzt, noch nicht. Er würde blaß werden und unwillkürlich an dem wieder zugewachsenen Loch in seinem linken Ohrläppchen zupfen, wo der große goldene Ring gesessen hatte, ehe er sein Leben ernsthafter anging, und dann würde er ihr sagen, sie könne das Baby aus demselben Grund nicht bekommen, aus dem sie auch keinen Hund, ja nicht mal eine Katze haben könnte – jedenfalls bis er seine Doktorarbeit fertig hatte, mindestens bis dann.
»Ich weiß nicht, Mel«, sagte er, und alle Müdigkeit und Resignation der Welt lag in seiner Stimme, als könnte ihn schon eine banale Diskussion zu Tode quälen, »was soll ich darauf sagen? Daß er heute nacht zum Fenster reinkriechen wird? Daß er unter den zweihundertsiebzig Millionen potentiellen Opfern in diesem Land gerade uns aufs Korn genommen hat, auf uns herabstürzen wird wie eine Brieftaube...?«
»Ach, Statistik«, sagte sie und wunderte sich über ihre Heftigkeit. »Das ist so, als wenn du sagst, die Chance, von einem Haifisch attackiert zu werden, sei etwa so groß wie die, vom Blitz getroffen zu werden – mag ja sein, nur der Blitz kann einen überall erwischen, aber wie viele Menschen wohnen denn überhaupt am Meer, wie viele gehen auch ins Wasser, und
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