Schluß mit cool (German Edition)
Wahrscheinlich nahm sie jetzt langsam zu, dachte sie, da sie ja für zwei aß, und wäre das nicht auch eine Methode, Sean das mit dem Baby anzukündigen, etwa in den nächsten sechs Monaten, so wie diese Studentenmama aus der Zeitung, die ihr Kind bis zur letzten fatalen Minute verborgen gehalten und dann erdrosselt hatte – Und du dachtest, ich werde nur langsam fett, was, Liebling?
Draußen vor den Fenstern waberte die Sonne im Garten über die Blumen, jede Spur vom Nachtdunst war weggebrannt. In dem Vogelhäuschen, das sie sich mit der Nachbarin über ihnen teilte, saßen Schneefinken und Baumläufer, ein Hund schlief auf dem Gehsteig der anderen Straßenseite, reinweiße Wolkenfestungen türmten sich über den Bergen. Es war still und friedlich, ein gewöhnlicher Tag, keine Indianer in Sicht, keine Bioethikerinnen, auch keine Eisenbahnmörder, die von Güterzügen sprangen und sich wahllos ihre Opfer suchten. Mit ruhiger Hand schnitt Melanie Zwiebeln und würfelte Sellerie, während eine unaussprechlich traurige Musik im Radio lief, ein Cello in einer Molltonart, erst als Solo, bis sich eine einzelne Geige dazugesellte, die so klang, als spielte sie ein Toter, als spielte er sein eigenes Klagelied – und vielleicht war er ja auch tot, vielleicht war die Aufnahme fünfzig Jahre alt, dachte sie, und plötzlich hatte sie das Bild eines Mannes mit langer Nase und Zigeunergesicht vor Augen, der den Häftlingen von Auschwitz ein Ständchen brachte.
Hör auf , sagte sie sich, hör schon auf! Sie sollte doch innerlich strahlen, oder nicht? Sie sollte stricken und backen und mit der gierigen Intensität einer Expertin den Kindern auf dem Spielplatz zusehen.
Die Sonnenblumenkerne lagen in der Pfanne, in der mit dem losen Griff und der schwarzen Teflonbeschichtung, die Herdplatte war auf Maximum gestellt, als die Türklingel ging. In genau jenem Moment erstarb – sehr wörtlich – die Geige, und die ölige, atemlose Stimme des Radiosprechers, den sie haßte (es war der, der immer so klang, als drückte er sich gerade mit einer Verstopfung herum), drängte sich in die Wohnung, während sie das vordere Zimmer durchquerte und in den Flur hinaustrat. Eben wollte sie die Tür öffnen – um diese Zeit konnte das nur der Briefträger sein, mit einem Stapel Rechnungen und Werbeprospekten und vielleicht einem von Seans Artikeln über Literaturtheorie (vielmehr über Theorie, wie er immer sagte – »einfach nur Theorie, eine Grunddisziplin wie Philosophie oder Physik«), zurückgesandt von irgendeiner obskuren Zeitschrift, Nachporto fällig –, doch etwas ließ sie innehalten. »Wer ist da?« rief sie durch die Tür, dabei roch sie bereits die in der Pfanne röstenden Sonnenblumenkerne.
Es kam keine Antwort, deshalb ging sie an das Fenster neben der Tür und schob die Gardine beiseite. Ein Mann stand auf der Betonstufe und starrte auf die plane Fläche der Tür, als könnte er hindurchsehen. Er war klein und mager, nicht größer als eins fünfundfünfzig, die Haut gebräunt zur Farbe des kupfernen Teekessels auf dem Ofen, gekleidet in die speckige Jeans und das langärmlige Allzweckhemd der Penner, die immer mit ihren Plastikbechern und Halbliterflaschen am Cabrillo Boulevard herumlungerten – oder sollte sie sie lieber Stadtstreicher oder Obdachlose oder gar »habitativ benachteiligte Mitbürger« nennen? Sean sagte immer Penner, und sie hatte sich das wohl von ihm angewöhnt. Diese Leute bedachten einen mit derben Ausdrücken, wenn man auf der Straße an ihnen vorüberging, und gestikulierten mit Fingern, die schwarz wie Zigarrenstumpen waren. Das waren Penner, nichts weiter, wer brauchte die schon?
Doch dann wandte sich der Mann ihr zu, sah sie am Fenster stehen und drehte sich zu ihr um, und ein Schrecken durchfuhr sie: er war Mexikaner, ein Latino, genau wie der Mann im Fernsehen, wie der Mörder, mit denselben toten Ascheklumpen als Augen. Er legte drei Finger aneinander und hielt sie sich an den Mund, dabei sah sie, daß er keinen Schnurrbart trug – aha, kein Schnurrbart, aber was hieß das schon? Jeder konnte sich rasieren, selbst ein Penner. »Was wollen Sie?« rief sie und fühlte sich in ihrer Wohnung in der Falle, gefangen hinter dem Glas wie ein Fisch im Aquarium.
Die Frage schien ihn zu überraschen. Was er wollte? Er wollte Essen, Geld, Sex, Schnaps, ihr Auto, ihr Baby, ihr Leben, ihre Wohnung. »Hunger«, sagte er. Und dann, als sie nicht reagierte: »Sie haben Arbeit?«
Sie schüttelte nur den Kopf
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