Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Einige entwickeln die Tendenz, sich gegen die gesellschaftliche Bedeutung der Zeit aufzulehnen und haben dann
Probleme damit, pünktlich zu sein. Außerdem macht die Ausrichtung auf die Endergebnisse der jeweiligen Produktionen weit vorausschauende
Planung erforderlich. Es entsteht ein »Zwang zur Langsicht«. Die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Normen führt dann
zu den Konflikten, die Sie in den früheren Kapiteln kennen gelernt haben. Letztlich steht sie nicht im Dienste der Selbstverwirklichung,
sondern der Produktionsverhältnisse. Ironisch glossierte Robert Musil in seinem
Mann ohne Eigenschaften
die Produktorientierung, die unsere Gesellschaft prägt:
|167| »In einem von Kräften durchflossenen Gemeinwesen führt jeder Weg an ein gutes Ziel, wenn man nicht zu lange zaudert und überlegt.
Die Ziele sind kurz gesteckt, aber das Leben ist auch kurz, man gewinnt ihm so ein Maximum des Erreichens ab, und mehr braucht
der Mensch nicht zu seinem Glück, denn was man erreicht, formt die Seele, während das, was man ohne Erfüllung will, sie nur
verbiegt, für das Glück kommt es sehr wenig auf das an, was man will, sondern nur darauf, dass man es erreicht.« (Musil, 1978,
S. 31)
Hauptsache Erfolg, egal wie. In der neoliberalen Variante dessen, was Erfolg ausmacht, würde man sagen: Hauptsache Millionär.
Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise macht uns jedoch auf die Perversion aufmerksam, die darin besteht, alle Werte
dem Primat des Ökonomischen unterzuordnen, hinter dem letztlich nur Gier steht. Die Alternative besteht in langfristigen Perspektiven,
die mit der Realisierung von selbstkongruenten Werten zu tun haben. Belohnungsaufschub, Nachhaltigkeit und dauerhafte Leistungsbereitschaft
sind dann leistbar, wenn man sich Vorhaben widmet, für die man ein wirkliches Eigeninteresse hat. Fachinteresse ist beispielsweise
stets der Faktor mit dem höchsten Vorhersagewert dafür, ob jemand ein Studium durchhalten und abschließen wird.
Das Arbeitsleben verlangt, dass Sie sich in vorgegebene Arbeitsabläufe einordnen. Dem steht der Wunsch nach Selbstbestimmung
entgegen. Der Kompromiss besteht im Aufschieben. Sie beugen sich dem Sachzwang, aber nicht vollständig, und Sie betätigen
Ihren Eigenwillen, indem Sie aufschieben, vorausgesetzt, Sie haben dazu einen Freiraum. Der ist besonders groß in jenen Milieus,
in denen die äußeren Anforderungsstrukturen sehr gering ausgeprägt sind, in denen also ein außergewöhnlich hohes Maß an Selbstbestimmung
möglich und an Selbstorganisation erforderlich ist. Vor allem Universitäten sind Beispiele dafür. Für Lehrende, aber vor allem
für Studierende existieren weniger einengende Verpflichtungen, als in anderen Arbeitszusammenhängen. Die Kehrseite dieser
Medaille bedeutet aber auch, dass es weniger haltgebende Verbindlichkeiten gibt. Der Preis für die größeren Freiräume besteht
in der Abwesenheit von Orientierung und äußerer Unterstützung. Die Eigenverantwortlichkeit kann zu einer hohen selbst gesteuerten
Arbeitsdisziplin führen, aber auch zu einer generell laxen Haltung.
In der alten Universität mit geringer Kontrolle hatte es den Anschein, |168| als sei das Aufschieben von Arbeitsvorhaben und deren Erledigung »auf den letzten Drücker« ein charakteristisches Merkmal
akademischen Arbeitsverhaltens – sowohl von Studierenden als auch von Lehrenden. Wer den Erzählungen von Akademikern lauschte,
hörte den Stolz und die offenkundige Befriedigung darüber, nicht Sklave von Arbeitsplänen und Fristen zu sein, sondern selbstbestimmt
und autonom zu arbeiten und aufzuschieben, um dann in letzter Minute die Examensarbeit doch abzugeben, das Manuskript für
den Artikel in den Briefkasten zu werfen, die Prüfungsaufgaben in der Nacht davor durchzuarbeiten: Kriegsberichte von der
Front intellektueller Arbeit.
Arbeitsdisziplin hatte an der Universität alter Prägung keinen hohen Stellenwert, Arbeitsstörungen wurden erlitten, bagatellisiert
und zu imagesteigernden Attributen hochstilisiert. Sich eines Arbeitsstils zu rühmen, der unsystematisch, unverbindlich und
störungsanfällig, aber hochgradig libidinös besetzt war, gehörte für Akademiker vieler Fächer zu den Techniken der Imagepflege;
besonders dort, wo nicht starre Vorgaben (Medizinstudium) oder externe Notwendigkeiten (Laborversuche in Chemie und Pharmazie)
andere Einstellungen begünstigen. Gefördert wurde all das, wenn
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