Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Normen des Umgangs zwischen Lehrenden und Studierenden existierten,
nach denen es vermieden wurde, klare Aufgaben zu stellen, verbindliche Fristen für deren Erledigung zu setzen und die Einhaltung
anzumahnen.
Wo so etwas passiert, handelt es sich häufig um ein bewusstes oder unbewusstes Zusammenspiel, bei dem es nicht mehr um den
Sach-, sondern um den Beziehungsaspekt geht, darum, Scham und Verlegenheit zu vermeiden. Auch außerhalb der Universität spielt
diese Haltung eine große Rolle, sobald es um nicht erfüllte Erwartungen geht. Sie anzusprechen, bringt zwei Personen in eine
schwierige Lage.
Helmut ahnt nicht, wie schwer sich sein Chef damit tut, ihn auf seine vielen unerledigten Stapel anzusprechen. Der Vorgesetzte
ärgert sich, dass Helmut ihm ein Spiel aufzwingt, das er gar nicht liebt: nämlich tatsächlich den Vorgesetzten herauszukehren.
Sein Chef hat an einer Reihe von Managementkursen teilgenommen und dort alles über Mitarbeitermotivation, Zielvereinbarungen
und korrektives Feedback gelernt. Aber schon die Vorstellung, Helmut mit seinem Fehlverhalten zu konfrontieren, ist ihm einfach
peinlich, obwohl er nicht versteht, warum. Schließlich findet er Helmut in der Tat
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pflichtvergessen, langsam und latent aufsässig. Warum also dieses unangenehme Gefühl, aus dem heraus der Chef das fällige
Gespräch mit Helmut immer wieder aufschiebt?
Helmut bewahrt durch das Aufschieben sein Image als potenziell fleißiger Mitarbeiter. Der Chef sichert durch sein bisheriges
Stillschweigen sein Image als taktvoller Mensch. Je länger beide schweigen, desto mehr verfestigt sich eine Norm in ihrem
Umgang miteinander, die lautet: Wir kratzen nicht am Image des anderen. Rein sachlich, von der Arbeitsleistung her, hat Helmut
sich diskreditiert, aber wegen der existierenden Umgangsnorm wird das Gespräch darüber Verlegenheit erzeugen. Diese wird sich
von der Person mit dem Fehlverhalten auf den Chef, der nachfragt, ausbreiten.
So entsteht eine verhängnisvolle Unverbindlichkeit. Sie ist häufig auch das Ergebnis einer Haltung von Eltern oder Führungskräften,
die als gewährend missverstanden wird und beim Laisser-faire endet. Den Beteiligten schwant zumeist zwar, dass sie einander
etwas verweigern und schuldig bleiben (Halt, Sich-verlassen-Können, Zuversicht, ein faires quid pro quo), diese Ahnung wird
jedoch regelmäßig verdrängt, ebenso wie die dazu gehörigen Aggressionen. Je länger eine fällige Aussprache aufgeschoben wird,
desto mehr verwandelt sie sich in der Fantasie in eine unerträglich belastende Konfrontation, bei der es auf beiden Seiten
um aufgeblähte Dimensionen von Schuld, Vorwurf, Anklage und Beschämung geht. Diese Vorstellung macht dann immer mehr Abwehr
durch Sprachlosigkeit und Kontaktabriss erforderlich.
Zu den Widersprüchen, die das moderne Leben uns Zeitgenossen auferlegt, gehört auch die Wahrnehmung, wie sich beispielsweise
in der Politik hektische Betriebsamkeit mit breithüftigem Aussitzen abwechselt. Aber weder die aktivistische Herangehensweise
noch die »Politik der ruhigen Hand« garantieren, dass die wirklichen Probleme angesprochen, geschweige denn gelöst werden.
Wer überall hingeht und nirgends ankommt, kann ein typischer Aufschieber sein – wer buddhahaft dasitzt auch.
In der Universität neuen Typs stehen nach der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge Transparenz und Verbindlichkeit
hoch im Kurs – oft aber auch eine Überregulierung, die als enges und starres Korsett empfunden wird. Viele Studierende beugen
sich lustlos und entnervt dem Druck von angeblich unbedingt zu befolgenden |170| Studienverlaufsplänen und kämpfen darum, nicht den Anschluss an die Kohorte derjenigen zu verlieren, die mit ihnen das Studium
aufgenommen haben. Das Befolgen der erlernten Spielregeln zu pünktlichem Selbstzwang hat – Norbert Elias zufolge – einen nachteiligen
Effekt:
»Das Leben wird in gewissem Sinne gefahrloser, aber auch affekt- oder lustloser, mindestens, was die unmittelbare Äußerung
des Lustverlangens angeht ...« (Elias, 1976, S. 330)
Unter der Tyrannei des Über-Ichs die Lust im Leben zu erhalten, gelingt jedoch im Nervenkitzel des Aufschiebens. Mit dem näherkommenden
Feuer zu spielen, mag unklug, aber reizvoll sein. Vielleicht bestraft das Leben ja doch nicht jeden, der zu spät kommt.
Zusammenfassung
In unserer Leistungs- und Warengesellschaft werden Schnelligkeit,
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