Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Jahren der Fremdbestimmung und der Verinnerlichung von Leistungsnormen die Leistung einmal
nicht mehr schnell und mühelos gebracht werden kann, dann bricht sich eine massive Angst Bahn. Diese Menschen haben kein Sicherheitsnetz,
in das sie fallen könnten, weil sich unter |163| dem Mythos der Leistung und des Siegs nichts anderes entwickeln konnte. Wenn heute die Zweiten der Welt bei einer Olympiade
verbittert erklären, sie hätten keine Silbermedaille gewonnen, sondern eine Goldmedaille verloren, dann wird die Pervertierung
von Maßstäben spürbar.
Irrationale Idealbilder bedrohen die körperliche und die seelische Gesundheit und Ihr Wohlbefinden. Sie hören heutzutage ja
nicht nur in der Sprache der Sportreporter unsinnige Steigerungen wie »der optimalste Flankenangriff« und »der idealste Aufschlag«.
Was bringt Menschen dazu, sich um Super-Superlative zu bemühen? Sie haben im Kapitel
Eines Tages komm ich groß raus
schon etwas erfahren über die individuelle Anfälligkeit für Idealbilder. Uns allen erschienen unsere Eltern, als wir noch
klein und hilflos waren, wie allmächtige und in jeder Hinsicht perfekte Götter. Das Vorbild der Großen, in deren Augen wir
Gnade finden wollten, speist als individuelle Quelle das gesellschaftlich vorgegebene Leistungsideal.
Die Zeit und das erschöpfte Selbst
In unserer Gesellschaft ist Leistung immer verknüpft mit dem Schlüsselbegriff der Zeit, die genutzt werden muss, um etwas
zustande zu bringen. Im Beruf und im Studium hat sich das Selbst als Ressource zu verstehen, die optimal genutzt werden muss.
Michael Ende hat in seinem berühmten Buch
Momo
dargestellt, wie eine ominöse Gesellschaft grauer Herren die Menschen dazu veranlasst, immer mehr Zeit einzusparen. Sie lassen
die Stadt zuplakatieren: »ZEIT IST KOSTBAR – VERLIERE SIE NICHT!« und »ZEIT-SPARERN GEHÖRT DIE ZUKUNFT!« . Solche Slogans sollen die Menschen dazu animieren, sich schneller zu rasieren, weniger Zeit zu vertrödeln, flinker zu arbeiten
und alles Überflüssige wegzulassen. Kinder sind exquisite Zeitverschwender, ihnen werden nur noch solche Spiele erlaubt, bei
denen sie etwas Nützliches lernen. Das Ergebnis ist deprimierend:
»Verdrossen, gelangweilt und feindselig taten sie, was man von ihnen verlangte. Und wenn sie doch einmal sich selbst überlassen
blieben, dann fiel ihnen nichts mehr ein, was sie hätten tun können.« (Ende, 1973, S. 187)
|164| Auch den Erwachsenen geht es schlecht und schlechter. Verkäufer, die kein Pläuschchen mehr halten, fertigen ihre Kunden nun
zwar in 20 Minuten statt in einer halben Stunde ab, aber dafür macht die Arbeit ihnen keinen Spaß mehr. Gesparte Zeit, so
zeigt sich, ist nicht etwa doppelte Zeit, sondern verwandelt die verbliebene in lustlose Zeit.
Die eingesparte Zeit geht an die grauen Herren, die durch sie leben, indem sie sie vernichten.
Mit diesem Horrorszenario traf Ende einen offen liegenden Nerv. Tatsächlich ist die Einsparung von Lebenszeit kein Selbstzweck.
Die so gewonnene Zeit ist nur dann auch ein wirklicher Gewinn, wenn wir sie für sinnvolle Aktivitäten investieren, und was
sinnvoll für uns ist, können wir nur selbst bestimmen. Effizienteres Arbeiten sollte zumindestens keine schlechtere Laune
erzeugen, als unergiebiges, schlecht organisiertes. Das Bewusstsein für die verstreichende Zeit, unsere Lebenszeit, kann natürlich
auch ein starker Impuls sein für die Überwindung des Aufschiebens.
»Ein Gefühl der Ermüdung und des Grauens befiel mich bei dem Gedanken, dass diese ganze so lange Zeit nicht nur ohne Unterbrechung
von mir gelebt, gedacht und wie ein körperliches Sekret abgelagert worden war und dass sie mein Leben, dass sie ich selber
war, sondern dass ich sie auch noch jede Minute bei mir festhalten musste, dass sie mich, der ich auf ihrem schwindelnden
Gipfel hockte und mich nicht rühren konnte, ohne sie ins Gleiten zu bringen, gewissermaßen trug ... Es schwindelte mir, wenn
ich unter mir und trotz allem in mir, als sei ich viele Meilen hoch, so viele Jahre erblickte.« (Proust, VII, S. 506)
»Im Übrigen durfte ich, solange noch nichts angefangen war, freilich wohl unruhig sein, selbst wenn ich glaubte, in Anbetracht
meines Alters noch einige Jahre vor mir zu haben, denn schon in wenigen Minuten konnte meine Stunde schlagen.« (Proust, VII,
S. 490)
Die Arbeitsteilung im modernen Leben wäre ohne eine maximale Nutzung der Ressource Zeit nicht
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