Schluss mit dem ewigen Aufschieben
möglich geworden. Sie hat zu
enormen Produktionssteigerungen geführt, die uns unseren materiellen Wohlstand ermöglicht haben. Allerdings sind durch sie
oft soziale und auch inhaltliche Zusammenhänge, in denen Aufgaben erledigt werden, zerstört worden.
Freud sah das »Unbehagen in der Kultur« noch als unabwendbares Ergebnis der notwendigen Unterdrückung spontaner Triebimpulse. |165| Man kann in unserer Gesellschaft nicht einfach aufstehen und aus dem Klassenzimmer gehen, wenn man keinen Bock hat. Man besucht
sich nicht einfach spontan, wie noch in Russland üblich, sondern man verabredet sich und hat dann einen (weiteren) Termin.
Man beachtet immer feiner werdende gesellschaftliche Spielregeln, die den direkten Gefühlsausdruck immer schwieriger machen.
Das künstlich aufgeheizte Klima des Warenfetischismus in unserer Gesellschaft, in dem das Design der Leistung und die Ästhetik
der Leistungserbringung immer wichtiger werden, hat inzwischen die Körper erfasst. Nun reicht es nicht mehr, einen sportlichen
Rekord aufzustellen, sondern die Sportler müssen auch noch so gut aussehen, dass sie als
centerfolds
in einschlägigen Magazinen verwertbar sind.
Das Leben in einer Fülle von Widersprüchen will gelernt sein. So soll Leistung sich lohnen, tatsächlich aber hat der Einzelne
immer weniger Möglichkeiten, sich auszuzeichnen und herauszuheben. Wenn – wie an unseren Universitäten üblich – in vielen
Fächern mehr als 80 Prozent der Absolventen eine Eins als Abschlussnote haben, wo bleibt dann das subjektive Erfolgserlebnis?
Und was sollen wir damit anfangen, einerseits dem Ideal ewiger Jugend nachzueifern, andererseits aber an »später« denken und
Vorsorge für unsere Alterssicherung betreiben zu müssen? Wenn man mit widersprüchlichen Erwartungen nicht mehr klarkommt,
kann man sich zurückziehen, wie es japanische Psychiater in jüngster Zeit vermehrt von Jugendlichen in Großstädten melden.
Die sogenannten »Hikikomori« gehen nicht mehr zur Schule oder in die Universität, sondern sitzen apathisch in ihren Zimmern
und müssen durch ihre entnervten Eltern wie Kleinkinder versorgt werden. Auch das ist eine Form des Aufschiebens.
Im Zuge der Ökonomisierung aller Lebensbereiche sind nicht nur im Wirtschaftsleben, sondern auch an den Hochschulen früher
vorhandene Freiräume verschwunden. Überall haben Controller das Sagen, werden outputorientierte Kennzahlen erhoben und Leistungsvorgaben
gemacht. Das neue System der Bachelor- und Masterstudienabschlüsse hat die Studierenden unter massiven Druck gesetzt. Die
Verdichtung von Studienleistungen, die in der Regelstudienzeit von sechs Semestern erbracht werden sollen, hat zu erheblichen
Belastungen geführt. Zeit mit politischem, sozialem oder bürgerschaftlichem Engagement außerhalb des Studiums zu verbringen,
scheint vielen nicht nützlich zu sein für die Idealbiografie, die die zukünftigen |166| Arbeitgeber angeblich erwarten. Das eigene Leben erscheint wie ein Projekt, das motiviert gemanagt werden muss. Die erreichten
Erfolge müssen im Selbstmarketing permanent kommuniziert werden. Alain Ehrenberg hat die Kehrseite dieser Medaille beschrieben:
Das erschöpfte Selbst
, das durch Hemmung, Impulsivität und Zwanghaftigkeit geprägt ist und in Gefahr gerät, in die Depression oder die Sucht zu
geraten – den zum Zeitgeist passenden Erkrankungen, die in ständiger Zunahme begriffen sind.
Pünktlichkeit, Sachzwänge und Verpflichtungen
Die moderne arbeitsteilige Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass die erforderlichen Dienstleistungen und die Güterproduktion
just in time
erfolgen und nicht irgendwann. Der Produktionsprozess hat seine Eigendynamik. Von der Hand in den Mund zu leben, ist selbst
in gesellschaftlichen Nischen kaum mehr möglich. Planung und Voraussicht sind an die Stelle der Impulsivität und der unmittelbaren
Bedürfnisbefriedigung getreten. Dabei sind die Zusammenhänge, die diesen Verzicht erfordern, vielen Menschen nicht unbedingt
klar und können daher auch nicht bejaht oder abgelehnt werden. Das sind dann eben die »Sachzwänge«, die als gegeben und nicht
hinterfragbar hingenommen werden. Uns ihnen unterzuordnen ist uns als »Zwang zum Selbstzwang«, wie der Zivilisationsforscher
Norbert Elias es nannte, zur zweiten Natur geworden.
Insofern die Gesellschaft insgesamt zwanghafte Züge trägt, verstärkt sich die individuelle Problematik, Konflikte erscheinen
unvermeidlich.
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