Schlussakt
gehörte auch ein kleines Wörterbuch
Russisch-Deutsch. Nach kurzem Hin- und Herblättern konnte ich die Kennzeichnung
auf dem Glas wenigstens teilweise lesen: Das größte der abgedruckten Wörter
endete mit ›-amphetamin‹. Ich meinte mich zu erinnern, dass der Vertrieb von
Amphetaminen in Deutschland verboten war. Nur wenn man die Tour de France
gewinnen wollte und einen Vertrag mit der Telekom hatte, durfte man das Zeug
schlucken.
Fürs Radfahren schien Gregor Woll allerdings kein Faible
gehabt zu haben. Ein Auto, das besaß er natürlich. Und zwar einen grünen Mazda,
wie ich den Unterlagen in seinem Wohnzimmerschrank entnahm. Ein grüner Mazda –
ich schloss die Augen und versuchte mir die letzten Stunden ins Gedächtnis
zurückzurufen. So einen Wagen hatte ich heute gesehen. Aber wo? Es war zu viel
passiert an diesem Mittwoch.
Ich kramte Wolls Schlüsselbund aus der Jackentasche. Auf dem
Autoschlüssel prangte das geflügelte Mazda-M. Falls ich mich an den Standort
des Wagens erinnern sollte, wäre es gut, den Schlüssel zur Hand zu haben. Ich
zog ihn vom Bund und steckte ihn separat ein.
Der Wohnzimmerschrank mit seinen vielen Schubladen erwies
sich im Übrigen als wahre Fundgrube für Schnüffler wie mich. Zum Beispiel fand
ich eine hochinteressante Korrespondenz, die darauf schließen ließ, dass Woll
womöglich die längste Zeit Orchestermitglied gewesen war. Eine Eingabe
Barth-Hufelangs an die Stadt, den Vertrag mit dem Klarinettisten aufgrund
schwerwiegender Pflichtverstöße zu kündigen: Undiszipliniertheiten,
Beleidigungen, Verdacht auf Alkohol im Dienst. Ein Antwortschreiben des
Bürgermeisters mit dem Hinweis auf Wolls Dienstverhältnis. Stellungnahmen
Wolls, des Orchestervorstands, Briefe und Gesprächsnotizen. Ein schwebendes
Verfahren. Allmählich wurde mir klar, warum der kleine Schaufelbagger bei der
Probe so lustlos gewirkt hatte. Wenn er im Clinch mit dem Dirigenten lag, war
der Spaß an der Arbeit natürlich gleich null.
Die Schublade darunter enthielt Wolls private DVD-Sammlung.
Verständlich, dass er sie nicht offen herumliegen ließ; weibliche Gäste hätten
irritiert sein können. Falls Woll jemals Gäste empfing. Nicht jeder
interessierte sich für das Triadenmassaker oder Heiße Nächte in
Nairobi . Ja, in Nairobi war immer was los. Im Prinzip hätte ich mir ein
paar Discs ausleihen können. Schon aus Recherchegründen. Aber ich besitze
keinen DVD-Player.
Und dann fand ich noch etwas. Um ein Haar hätte ich es
übersehen. Ich wollte die unterste Schublade des Schranks eben schließen, als
ich stutzte. Da lagen einige Illustrierte durcheinander, nichts Besonderes,
Zeitschriften über Motorsport, füllige Damen oder eine Kombination aus beidem.
Obenauf der Stern . Eine Ausgabe von letztem Jahr, mittendrin
aufgeschlagen, die Seiten stramm nach hinten geknickt. So, wie man es macht,
wenn man sich für einen bestimmten Artikel interessiert. Und Woll war nicht der
Einzige, der sich für ihn interessiert hatte. Der Artikel war mir schon einmal
untergekommen, an ganz anderer Stelle: in Annette Nierzwas Wohnung. Komisch,
dass ich mich daran sofort erinnerte, während mir partout nicht einfallen
wollte, wo ich den grünen Mazda gesehen hatte. Kunstgegenstände dubioser
Herkunft, darum ging es. Beim Durchwühlen von Annettes Sekretär hatte ich den
Artikel entdeckt: fünf oder sechs Blätter, aus dem Stern ausgeschnitten,
von einer Heftklammer zusammengehalten. Das war doch kein Zufall!
Ich überflog den Text. Es
ging um Bilder und anderen Kram, der unter den Nazis enteignet worden war. Nun
stritt man um die Rückgabe, Gerichte und Regierungen schalteten sich ein, es
gab Sammelklagen und Geheimverhandlungen. Die Stern -Reporter schilderten
einige Fallbeispiele, nicht ohne die Emotionen zu vergessen, die mit der
Wiedererlangung eines Cézanne oder der Herausgabe einer wertvollen Geige
verbunden waren. An einem Detail blieb ich hängen: Der Besitzer der erwähnten
Geige sollte in Heidelberg leben. Vielleicht war das eine Spur. Aber nicht
jetzt. Ich steckte die Zeitschrift ein und schloss die Schublade.
Viel mehr blieb nicht zu tun. Ich ging noch einmal ins
Schlafzimmer, um stummes Zwiegespräch mit der Inka-Maske zu halten. Der alte
Heidengott fixierte mich mit seinen starren Goldaugen. Vielleicht rauchte er
jetzt zusammen mit Woll, seinem Verehrer, im Nirwana ein Zigarettchen. Sofern
im Nirwana kein Rauchverbot herrschte.
Meine
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