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Schlussakt

Schlussakt

Titel: Schlussakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbsweiler
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Serpentinen abwärts, dann war ich da. Wolls
Wohnung befand sich in der fünften Etage eines zehnstöckigen Kastens, von dem
hellgraue Farbe in Fetzen herabhing. Dafür leuchteten die neuen Müllcontainer
in der Einfahrt grellgelb. Auf der Wiese vorm Haus lag eine dünne Schneedecke,
neben dem Fußabtreter moderte ein Stapel Anzeigenblätter vor sich hin.
    Die Eingangstür stand offen. Ich nahm den Aufzug in den
fünften Stock und horchte eine Zeit lang an Wolls Wohnungstür, bevor ich seine
Schlüssel ausprobierte. Der dritte passte, was mich nicht überraschte. Es war
ja auch die dritte Wohnung, die ich auf unrechtmäßige Weise betrat. Am Montag
die Annette Nierzwas, heute die von Nagel und Woll. Zwei dieser drei Personen
waren ermordet worden. Und die dritte?
    Ich trat ein. Es muffelte; Reste von Zigarettenrauch hingen
in der Luft. Rasch verschaffte ich mir einen Überblick, viel Zeit blieb mir
nicht. Es war eine Dreizimmerwohnung, und sie war so gemütlich wie ein
gepolsterter Sarg: niedrige Decken, dunkler Teppichboden, Raufasertapete. Durch
ein breites Wohnzimmerfenster sollte Licht fallen, doch da fiel nur das Grau
des Winters. Nebenan ein ungemachtes Bett, Kleider auf einem Stuhl, ein offen
stehender Schrank. Raum Nummer drei hatte dem Klarinettisten als Musikzimmer
gedient. Da gab es einen Notenständer, einen Instrumentenkoffer und ein Regal
voller Noten. Im Gegensatz zu seiner Ex-Frau war Woll nicht auf Ordnung
bedacht. Auf dem Wohnzimmersofa lag eine leere Brottüte, die Krümel waren in
alle Ritzen gerutscht. In der Badewanne türmte sich die Dreckwäsche. Am
übelsten war die Küche dran, in der es säuerlich roch. Ich warf einen Blick in
die Spülmaschine und machte sie sofort wieder zu.
    Kein Sauberkeitsfanatiker also, dieser Gregor Woll. Das war
das Erste, was mir auffiel. Das Zweite war: Südamerika. Der Mann hatte einen
Inkafimmel gehabt. An der Wohnzimmertür hing das Plakat einer Mannheimer
Mumien-Ausstellung, auf einer Truhe stapelten sich Bildbände über indigene
Völker und ihre untergegangenen Kulturen. Die Nachbildung einer Goldmaske mit
Kopfschmuck wachte über Wolls Bett. Irgendwie makaber. Sogar an den Wänden des
Musikzimmers wurde gerade ein Menschenopfer dargebracht, dem Sonnengott
gehuldigt oder sonstiger Schabernack getrieben. Mittendrin thronte ein Typ, der
dem verstorbenen GMD ähnlich sah. Wenn der mal nicht den Sklavenchor beim Bau
von Macchu Picchu leitete.
    Wolls Instrumentenkoffer hatte etwas Waffenmäßiges. Er war
nicht abgeschlossen, ich klappte ihn auf und sah, dass die Klarinette in
Einzelteilen darin lag. Genau wie ein Maschinengewehr. Und was sagte mir das?
Nichts sagte mir das. Ich nahm das größte der Teile heraus, benutzte es als
Fernrohr und entdeckte draußen, auf der anderen Straßenseite, eine
Telefonzelle. Von dort aus würde ich nachher die Polizei informieren.
    Koffer wieder zu, kurz durch das Notenregal geblättert,
nichts gefunden. So viel zum Musikzimmer. Jetzt Wolls Schlafraum: Ich schaute
unters Bett, in den Schrank, schüttelte die herumliegenden Kleider aus. Mit
spitzen Fingern sozusagen, hätte ich nicht ohnehin die ganze Zeit meine
Handschuhe anbehalten. Mir gefiel nicht, was Woll an Hemden und Hosen getragen
hatte. Ihm schien es umso mehr gefallen zu haben; so sehr, dass er einen Teil
seiner Kleider in eine große Reisetasche gestopft hatte, bis diese kaum noch
zuging. Sie stand neben dem Schrank, halb verdeckt vom offenen Türflügel. Wenn
man in Urlaub fährt, packt man solche Taschen. Kurze und lange Hosen, T-Shirts,
ein Pulli, Socken, Badezeug, je ein Paar Schuhe und Sandalen, Rasierapparat, Sonnenbrille
und Handtuch. Warme Sachen fehlten. In einer Seitentasche der Reisepass. Wollte
der Kerl seine Inkas besuchen? Mitten in der Spielzeit?
    In einem Nachtschränkchen neben dem Bett fand ich einige
Medikamente: Aspirin, etwas für den Magen, gegen Halsschmerzen. Und ein halb
volles Glas mit Schraubverschluss. Die Tabletten darin sahen harmlos aus, aber
die Aufschrift irritierte mich: Sie bestand aus kyrillischen Buchstaben. Auch
wenn der Text nicht zu entziffern war, hatte ich den Eindruck, dass es hier
weder eine Herstellerangabe noch ein Haltbarkeitsdatum gab. Das Zeug wirkte wie
im privaten Kellerlabor zusammengemixt.
    Ich steckte das Glas ein und wollte mich schon abwenden, als
mir weitere kyrillische Lettern auf einem Buchrücken auffielen. Zu den Büchern
auf Wolls Nachtschränkchen

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