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Schlussakt

Schlussakt

Titel: Schlussakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbsweiler
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hinunter nach Schlierbach schaffen würde. Meine Beine begannen zu zittern, die
Arme schmerzten. Ich setzte den Kerl ab. Wobei absetzen ein Euphemismus ist.
Beim Versuch, in die Knie zu gehen, knickte ich ein, meine Last fiel hart auf
die geschotterte Erde, rollte ein paar Meter bergab und blieb schließlich am
Wegrand liegen.
    »Sorry«, beeilte ich mich zu sagen. Aber ich konnte nicht
mehr.
    Das verschnürte Bündel regte sich nicht, gab keinen Mucks von
sich. Nur mein heftiges Atmen durchbrach die Stille des Winterwaldes. Woll war
tot, er musste einfach tot sein. Ich rappelte mich auf, ging zu ihm hin und
suchte ein letztes Mal vergeblich nach seinem Puls. Selbst wenn noch ein Rest
Leben in ihm steckte, würde er sterben. Kein Arzt dieser Welt konnte ihn mehr
auf diese Erde zurückholen. Das Philharmonische Orchester würde sich einen
neuen Klarinettisten suchen müssen.
    Die dritte Leiche. Drei Tote in fünf Tagen. Vielleicht hatte
der Kriminaltechniker mit seinem Serienmörder doch recht. Wenigstens war nun
Bernd Nagel aus dem Schneider. Wer seit Montagabend in Haft saß, konnte für
Wolls Tod nicht verantwortlich sein.
    Ein Geräusch ließ mich zusammenfahren. Weiter oben war ein
Reh aus dem Wald getreten und glotzte mich an. Ich weiß nicht, ob Rehe denken
können; falls ja, dachte das Tier sicher nichts Gutes über die Krone der
Schöpfung. Da wird ein gefesselter, halb gefrorener Mensch von einem anderen
hin- und hergewälzt, dann geschultert, den Berg hinuntergeschmissen und zuletzt
durchsucht.
    »Komm, hau ab«, verscheuchte ich das Vieh. »Geh weiter.«
    Immerhin entschuldigte ich mich bei Woll für die Plünderung
seiner Taschen. Viel kam ohnehin nicht zum Vorschein: ein Schlüsselbund, ein
Geldbeutel, Zigaretten, ein Feuerzeug und eine leere Tablettenschachtel. Im
Portemonnaie etwas Bargeld, Scheckkarten, Wolls Führerschein. Und ein
zusammengefalteter Zettel. Den faltete ich auseinander und las: BERND NAGEL 00.
Interessant. Ich drehte das Papier hin und her. Es war eine Seite aus einem
Jahresplaner und trug das Datum vom 20. November letzten Jahres. Mehr als
Nagels Name mit den beiden Nullen stand nicht darauf. Dieselben Buchstaben und
Ziffern wie auf dem Notizblock in Annette Nierzwas Wohnung. Sogar die
identische Handschrift, wenn ich mich nicht täuschte. Nur die Punkte unter den
Buchstaben fehlten. Das ergab keinen Sinn. Welche Frau dieser Welt musste sich
den Namen ihres Geliebten notieren? Und was wollte Annettes Ex mit diesem
Wisch?
    Den Zettel und die Schlüssel steckte ich ein, alles andere
verstaute ich wieder in den Taschen des Toten. Dann holte ich mein Rad, das
noch oben auf der Kuppe des Auerhahnenkopfs stand. Als ich an Woll vorbeifuhr,
drosselte ich das Tempo. Auch wenn er tot war, sollte er keinen Splitt abbekommen.
Still blieb er hinter mir zurück, das Gesicht im Schnee, die Arme auf dem
Rücken.
    Ich hatte ihm nicht einmal die Fesseln gelöst.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012

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    Einer meiner Freunde, ich glaube, es war Fatty,
bezeichnete den Emmertsgrund mal als Kreuzung zwischen der Bronx und Cape
Canaveral. Das ist natürlich Unsinn, denn Englisch spricht dort keiner. Umso
mehr Konjunktur haben Russisch und Türkisch. Trotzdem ist das Bild nicht ganz
aus der Luft gegriffen. Wer sich der Bergsiedlung von unten nähert, fährt auf
einen Weltraumbahnhof zu. Glitzernde Wolkenkratzer recken sich gen Himmel,
Hochhausraketen warten auf den Countdown zum Abheben. Vielleicht wäre es das
Beste für den Emmertsgrund, einer würde endlich auf Null zählen. In der
Altstadt ziehen sie die Brauen hoch, wenn sie hören, dass du dort oben wohnst,
die Makler machen einen großen Bogen um den Stadtteil, und die Neuenheimer
sprechen nur von dem »Ding oberhalb von Leimen«.
    Dabei haben es die Stadtplaner vor 30 Jahren angeblich gut
gemeint mit den Heidelberger Neubürgern: billiger Wohnraum, Leben im Grünen,
prima Fernsicht. Vom Grün der Umgebung bekommt man im Innern einer Betonbox
allerdings wenig mit. Und weil die Rheinebene immer dunstverhangen ist,
beschränkt sich die Fernsicht auf sehnsüchtige Blicke hinunter nach Rohrbach oder
zu den Villen der Weststadt. Man bekommt harte Schädel im Emmertsgrund, heißt
es.
    Über Drei-Eichen- und Waidhausweg erreichte ich den Westhang
des Kleinen Odenwalds. Unter mir lugte die Käfigarchitektur der 70er durch die
Stämme. Noch ein paar langgezogene

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