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Schlussakt

Schlussakt

Titel: Schlussakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Imbsweiler
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war im Laufe der Zeit zusammengesackt;
der ganze Bau lehnte mit bedenklicher Schieflage an einer Buche. Hätte ich
Kinder, würde ich ihnen das Hochklettern verbieten.
    Jedenfalls musste Woll vor dem nächtlichen Schneefall hier
unten gelegen haben und eingeschlafen sein. Ich hoffte zumindest, dass der
Erfrierungstod einen friedlich einschlafen ließ. Man wünscht sich so einen
Punkt, an dem der betäubende Schmerz der Kälte in stille Ergebung umschlägt. Vielleicht
gibt es diesen Punkt tatsächlich, vielleicht fühlt man sich am Ende, wenn der
Abschied unwiderruflich ist, warm und geborgen, fest umhüllt von weichen Laken
aus Schnee. Aber Wolls fahles Gesicht verriet nichts über seine letzten
Stunden.
    So. Und nun geschah etwas, von dem ich nicht weiß, wie ich es
beschreiben soll. Ich habe oft darüber nachgedacht, habe davon geträumt – mit
mir im Reinen bin ich immer noch nicht. Zu den wenigen Menschen, denen ich von
meinem Erlebnis erzählte, gehörte mein Hausarzt, aber der schüttelte nur den
Kopf. Christine meinte, ich sollte mal einen Psychologen um Rat fragen, da
bereute ich es schon, sie eingeweiht zu haben.
    Dabei handelte es sich um einen ganz einfachen Sachverhalt:
Woll stöhnte plötzlich auf.
    Verdammt, er stöhnte, und wie er das fertigbrachte, ist mir
bis heute ein Rätsel. Ich hatte mich zu ihm hinuntergebeugt, ihn an der
Schulter und einem Knie gepackt, um ihn auf den Rücken zu drehen. Das tat ich
auch, und während ich den Körper vom Bauch, genauer gesagt von seitlicher
Bauchlage auf den Rücken wälzte, ließ Woll ein herzzerreißendes Stöhnen hören.
Sein Brustkorb wurde durch den unsanften Zugriff gestreckt, die Lungenflügel
weiteten sich, der Kopf fiel mit Verzögerung auf die andere Seite, Luft drang
in den Körper, wurde zusammengepresst und wieder in die Freiheit entlassen … am
Ende dieses Vorgangs stand ein hohles, tierisches Stöhnen, das mich mit einem
Entsetzensschrei in die Höhe springen ließ.
    Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich starrte die Leiche an. Wie
war das möglich? Lebte der Kerl etwa noch?
    Zitternd ging ich in die Knie, zog einen Handschuh aus und
tastete nach seiner Halsschlagader.
    Da war nichts. Nur mein eigenes Pulsrasen. Der Typ hatte die
Temperatur von Speiseeis. Aber einen solchen Urlaut bildete man sich doch nicht
ein! Dieser Hurensohn trieb sogar als Toter noch seine Spielchen mit mir. Dem
würde ich ein Bier ausgeben, hatte er über den Mörder seiner Ex-Frau gesagt.
Und jetzt, Gregor Woll? War das Stöhnen deine letzte Bestellung?
    Wieder und wieder fühlte ich nach seinem Puls, horchte auf
Atemzüge, kniff in die ledrigen Wangen. Keine Reaktion, nichts. Woll weilte
nicht mehr unter uns. Aber er hatte einen Laut von sich gegeben, das war ums
Verrecken nicht zu leugnen.
    Ich begann zu fluchen. Stampfte mit dem Fuß auf, trat gegen
herumliegende Tannenzapfen. Jetzt musste ich dieses Arschloch auch noch zum
Arzt bringen! Kein Saft mehr im Handy und zu meinen Füßen eine röchelnde
Leiche. Ich sah mich schon mit dem halb gefrorenen Woll auf dem Gepäckträger
hinunter nach Schlierbach rasen. Aber was blieb mir übrig? Wenn ich selbst
unfähig war zu beurteilen, ob in dem Kerl noch ein Funken Leben steckte, musste
ein Fachmann ran. Sollte der mich ruhig auslachen, dass ich Laute aus einer
frostigen Kehle vernommen hatte. Sollte er lachen.
    Ich wälzte Woll hin und her, damit der Schnee von ihm abfiel.
Sein Kopf mit den leicht geöffneten Lippen rollte mit, und es sah zuweilen aus,
als grinse er hämisch. Dann entdeckte ich seine Verletzung. Schwarzes Blut,
vermengt mit Walderde, kleinen Zweigen und gefrorenen Blättern, klebte an
seiner Schläfe. Es war nicht viel Blut, und ich wagte keine Diagnose, ob die
Wunde von einem Schlag oder einem Sturz herrührte, ob sie eine Ohnmacht oder
gar den Tod herbeigeführt hatte.
    Sobald Woll einigermaßen von Schnee und Erde befreit war,
versuchte ich ihn zu schultern. Mein Gott, so schmächtig ich bin, so zäh bin
ich auch und vermag einiges an Last zu tragen. Aber einen gefesselten,
unterkühlten Körper, der ständig in eine andere Richtung kippt? Es war eine
schweißtreibende Arbeit. Unter größten Mühen schleppte ich Woll den
Auerhahnenkopf bergab, ständig den Griff wechselnd, das Gewicht verlagernd.
    »Und bitte halt dein Maul, Woll«, keuchte ich, als sein Kopf
meinem Ohr bedrohlich nahekam.
    Nach 20 Metern wusste ich, dass ich es nie und nimmer bis

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