Schlussblende
sie hatte sich mit dem berühmten zwingenden Blick aus ihren blauen Augen gerächt, weil sie genau wußte, wie unbehaglich den anderen in der Gruppe zumute wurde, wenn diese Augen sie stumm musterten. Und doch, hinter ihrer Maske scheinbarer Gelassenheit brodelte es wie in einem Hexenkessel. Sie wußte, daß sie keine Ruhe finden würde, bis sie etwas in der Hand hatte, womit sie den anderen beweisen konnte, daß sie recht gehabt hatte.
Sich durch das Vermißtenregister zu wühlen, in der Hoffnung, weitere vermißt Gemeldete ausfindig zu machen, die den Kriterien nach zu ihrer Siebenergruppe paßten, wäre ein von vornherein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Sie wußte aus ihrer Zeit in der praktischen Polizeiarbeit, daß Jahr für Jahr annähernd eine Viertelmillion Menschen vermißt gemeldet wurden, davon hunderttausend unter achtzehn Jahren. Manche waren einfach vor dem unerträglichen Druck des ungeliebten Berufs oder der Familienverhältnisse davongelaufen, andere, weil sie hofften, anderswo wären die Straßen mit Gold gepflastert. Und ein paar wenige waren die Opfer von Verbrechern geworden, die sie aus der Geborgenheit ihrer Familien gerissen und durch die Hölle geführt hatten. Aus einem Vermißtenregister ließ sich nicht herausfiltern, wer zu welcher Gruppe gehörte. Selbst wenn ihre Kollegen alle Skepsis vergessen hätten und bereit gewesen wären, ihr zu helfen, hätte das bedeutet, in monatelanger Sisyphusarbeit ein ellenlanges Register nach weiteren potentiellen Opfern des Serienmörders zu durchforsten. Dafür fehlten ihnen einfach die Zeit und die personellen Ressourcen.
Als Tony ankündigte, am Nachmittag stehe »Selbststudium« auf dem Dienstplan, fing es in Shaz zu kribbeln an. Jetzt hatte sie Zeit, etwas zu unternehmen. Sie lehnte Simons Vorschlag ab, den Lunch in einem Pub einzunehmen, und eilte in die größte Buchhandlung der Stadt. Minuten später stand sie an der Kasse, in der Hand das Buch
Jack auf dem Prüfstand – die nicht autorisierte Version
von Tosh Barnes, einem für seine ätzenden Kolumnen bekannten Fleet-Street-Journalisten, und
Löwenherz – die wahre Geschichte eines Helden
, eine aktualisierte Fassung des Buches, das Micky Morgan kurz nach ihrer Heirat geschrieben hatte. Tony war der Ansicht gewesen, daß der Mörder – vorausgesetzt, Shaz hatte mit ihrer These recht – eher in Vance’ Team zu suchen sei? Nun gut, vielleicht fand sie in den Büchern einen Hinweis, der sie auf die Fährte des wahren Mörders führte. Aber vielleicht fand sie auch ihre Vermutung bestätigt, daß sie ihn in Jacko Vance bereits gefunden hatte.
Zu Hause stürzte sie sich sofort auf Micky Morgans Buch: eine einzige Lobhudelei – der große Sportler, selbstlose Held, unbeugsame Kämpfer, erfolgreiche Sportreporter, unermüdliche Helfer der Kranken und Behinderten … und der mustergültige Ehemann. Shaz konnte sich nicht helfen, es wäre ihr ein Vergnügen gewesen, dieses lebende Denkmal zu demolieren. Als sie sich bis zur letzten Seite dieser schamlosen Eloge durchgequält hatte, legte sie das Buch erleichtert weg.
Kein Wunder, daß sich bei allen Ermittlungen gegen einen Serienmörder das alte Mißtrauen regte: War es wirklich denkbar, daß die eigene Frau nichts von seinen Untaten geahnt hatte? Wie konnte Micky Morgan das Bett und ihre Arbeit mit einem Kerl teilen, der junge Mädchen entführte und umbrachte, ohne die Wahrheit wenigstens zu ahnen? Und wenn sie es wußte, wie brachte sie es dann ohne Gewissensbisse fertig, die Angehörigen eines Mordopfers vor die Kamera zu holen?
Sie wußte keine Antwort auf diese Fragen. Es sei denn, Tony hatte recht mit seiner Vermutung, daß der Serienmörder eher in Jacko Vance’ Begleittroß oder unter seinen Fans zu suchen wäre.
Sie griff nach dem Buch
Jack auf dem Prüfstand
, von dem sie sich eine objektivere Darstellung derselben Heldensaga erhoffte. Die eine oder andere Anekdote las sich zwar anders, aber im Grunde stimmte auch Tosh Barnes das Loblied des liebenswürdigen, für andere engagierten, im Beruf zu Perfektionismus neigenden Jacko an. Und all das zählte nicht gerade zu den herausragenden charakterlichen Merkmalen eines wahnsinnigen Massenmörders.
Shaz hatte sich bei der Lektüre der Bücher Notizen gemacht. Sie startete ihr Laptop, richtete eine neue Datei ein und gab ihr die Überschrift
Systematische Täter-Checkliste.
Darin ordnete sie sämtliche Eigenschaften ein, die die Autoren Vance zugeschrieben hatten, jeweils
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