Schmeckt's noch?
Wir erschrecken. Die Hälfte unserer Lebenszeit ist vorbei, und wir haben doch noch nicht gelebt. Die Frauen rennen zum Schönheitschirurgen, und die Männer nehmen sich eine junge Freundin, an der das Leben noch nicht genagt hat. Die ungelebte , von Chirurgen geglättete Haut hilft uns nicht weiter, und die junge Freundin bringt die ungelebte Zeit nicht zurück. Statt unsere Lebenslust und Genussfähigkeit zu entwickeln, flüchten wir in die Versatzwelten.
Es ist so furchtbar einfach. Kochen und Essen sind die Türen zu den verborgenen, doch für jeden einzelnen von uns reservierten Räumen, in denen wir lernen zu leben, am Leben teilzuhaben, in der Fülle und aus der Fülle unseres Seins. Beim Genießen, in diesem Ereignis büßt die Welt ihre Fremdheit ein. Beim Genießen sind wir Teil der Welt, und zugleich erleben wir uns in ihr ankernd.
Im Genuss sind wir „Bürger des Paradieses“!
Vom Zauber der Demeter
und dem Wirken des Würgeengels
Sizilien — das Land, in dem der Schrecken und die unbeschreibliche Schönheit ganz nahe beisammen liegen. In der Natur wie bei den Menschen. Die Doppelnatur Siziliens — das Tellurische und das Siderische von alters her. Sizilien reichte schon immer ans Paradies, und zugleich findet sich dort, verborgen bei einer Quelle, der Eingang in die Unterwelt.
An einem dieser atemberaubenden sizilianischen Frühlingstage komme ich an. Die Luft zwischen Messina und Syracusa ist durchtränkt von einem betörenden Parfüm, dem Duft der Orangen- und Zitronenblüten. Ich bin augenblicklich davon eingehüllt. Es ist, als nähme ich ein berauschendes Bad in diesem Duft. Ein reiner Sinnesrausch.
„La Primavera
Giunt’e la Primavera e testosetti
la salutan gl’augei con lieto canto,
e i fonti allo spirar de’ zefferetti
con dolce mormorio scorrono intanto.“ 2
Antonio Vivaldi
Primavera — die große Verführerin, die uns allseits Entfesselnde. Persephone, der Unterwelt kaum entkommen, lässt alles blühen und sprießen , überströmend, ein Blütenteppich, wohin man schaut.
Hades, der Herr der Unterwelt und Bruder des Zeus, entführte Persephone, die Tochter Demeters , beim Pflücken von Narzissen, den Täuschungsund Betäubungsblumen, die in ihr die Lust nach der feuchten Unterwelt erregten. In seine Welt, in die Paläste der Unterwelt, entführte Hades sie. In ihrer untröstlichen Trauer und ihrem Schrecken verbreitenden Zorn über den Verlust ihrer Tochter Persephone ließ Demeter, die Unversöhnliche, keinen einzigen Samen, und wäre er noch so winzig, sprießen. Die Erde erstarrte zur Wüste. Umsonst zogen die Ochsen den Pflug. Verderb gegen Verderb! Bald wäre es um uns, das Menschengeschlecht, geschehen gewesen. Das Ausmaß ihres Zorns verstörte sogar die Götter. Damit zwang Demeter den um die Erde bangenden Zeus, bei seinem Bruder Hades die Freilassung von Persephone zu bewirken. Die Bedingung der Freilassung war, dass Persephone bei Hades keine Nahrung zu sich genommen haben durfte. In ihrer Freude auf das baldige Wiedersehen mit ihrer Mutter leichtsinnig geworden, ließ sich Persephone von Hades sieben Granatapfelkerne unter die Zunge legen. Für die sieben Granatapfelkerne muss Persephone nun Jahr für Jahr ein Drittel der Zeit bei Hades in der Unterwelt zubringen.
Bei uns herrscht dann das winterliche Dunkel, und alles stirbt ab. Demeter trauert aufs Neue um ihre Tochter. Jedes Jahr, im Frühlingszeichen des Widders, entlässt Hades Persephone, und auf der Erde beginnt neuerlich der Frühlingsreigen. Persephone, die Lichtbringerin, ist wieder frei.
Auf ihrer rasenden Suche nach der Tochter entzündete Demeter am Ätna eine Fackel, um im Dunkel der Welt Persephones Spur zu finden. Aus Dankbarkeit für das geborgte Licht beschenkte sie Sizilien zuallererst mit dem Weizen. Aus Eleusis brachte sie die goldenen Ähren. Das ist der Beginn des Durumweizens auf der Insel. Nirgendwo ist er von so reifer, glasklarer Qualität. Der Durumweizen ist der Rohstoff für Teigwaren, die es verdienen, Teigwaren genannt zu werden.
In Catania, am Fuß des Ätna gelegen, holen mich meine sizilianischen Freunde ab. Sie bewirtschaften auf der Insel Orangen-, Zitronen- und Mandarinenplantagen. Sie bauen Weizen und Gemüse an und produzieren Olivenöl, Wein sowie die unvergleichlichen Teigwaren.
Seit 1974 gehen Francesco und Concetta in ihrem Umgang mit der Natur und in ihrer Landwirtschaft neue Wege, und seit über zwanzig Jahren sind wir einander verbunden.
Es war ein
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