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Schmeckt's noch?

Schmeckt's noch?

Titel: Schmeckt's noch? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Lampert
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Mund abschmecken, reichhaltige Erlebnisse. Sie spüren mit jedem Bissen im Mund, wer sie sind, sie kosten ihre Identität aus, die sie selbst geschaffen haben. Das Kochen ist um nichts weniger präzise in seinen Mitteilungen über eine Kultur, eine Region, einen Einzelmenschen als jede andere Kunstgattung.

    Die Lebensfreude nach dem finsteren Mittelalter, nach dem Dreißigjährigen Krieg äußert sich in den Kirchen mit weißen Gipswolken, jubelnden Engeln und in der Küche mit leichten und fröhlichen Gerichten wie Schlagobers, Schneenockerln , Erdäpfelpüree . Wie in der Musik gibt es mehrere selbstständige Melodien, die dann ein Ganzes ergeben. Die Franzosen kochen gerne polyphon, lassen den einzelnen Komponenten ihr Eigenleben.

    Wir bringen uns durchs Leben mit dem Hausverstand, der beruht nicht nur auf Sprachoperationen, sondern auch auf Berührungen, Gerüchen, Bewegungen von Lebewesen, die in jeder Minute Neues prüfen und prüfen müssen. Aus diesem fortwährenden ganzheitlichen Auseinandersetzen und auch körperlichem Tun hat sich der Hausverstand entwickelt, und ohne diesen ist erfolgreiches Kochen nicht möglich.

    Ein verbranntes Schnitzel kann man verbal nicht rechtfertigen. Auf ganz klare Weise entzieht sich das der künstlerischen Diskussion. Die Fehler in der Malerei klipp und klar nachzuweisen ist unmöglich.

    Das Kochen holt die Menschen auf den Boden des Lebens. Das Kochen ist ein Bindeglied zur frühen Jugend der Menschheit. Der Mensch hat die größte Genugtuung, wenn er sich die räumliche Tiefe unserer Entwicklung bewusst machen kann, sodass er spürt, wo wir herkommen.

    Jetzt wird der Selbstversorgungs-Bauer ausgerottet — ausgerechnet der Beruf, der die Materialien zum Wachsen bringt, bis zur Speise alles verfertigt, der als kleine Einheit so wichtig ist, als Modell für den Ausgangspunkt unserer Zivilisation. Wenn man die Avantgardisten in der Kunst preist als Leute, die ihr Leben riskieren und für etwas geben, woran sie glauben, dann sind heute die wirklichen Avantgardisten die selbst versorgenden Bauern, die verhöhnt werden, indem man sie zwingt, mit ihren Produkten in Konkurrenz zu den lächerlichen Industrieprodukten zu treten.“

    Soweit Peter Kubelka in einem Interview im FAZ-Magazin 1996. Er hofft und erwartet als Gegenbewegung zu den entleerten Küchen eine Renaissance der Koch- und Essenskunst und dadurch eine Renaissance des Menschseins.
    Dabei geht es um nichts weniger als die Rückeroberung unserer Sinnlichkeit, unserer Lebensfähigkeit. Die Erlebnisfähigkeit des Menschen hat ursächlich mit dem breiten Tableau des differenzierten Riechens, Schmeckens, Tastens und Fühlens zu tun. Um unsere Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit nicht nur zu erhalten, sondern auch weiterzuentwickeln, müssen wir sie täglich trainieren — beim Kochen und Essen.

    Erst dadurch werden wir zu differenzierten Persönlichkeiten und zum zoon politikon . Wir lernen unseren Sinnen, unseren Gefühlen zu vertrauen; und zugleich lernen wir mit ihnen zu leben, sie nutzbar zu machen für unsere Lebensführung, unsere Erlebnisfähigkeit. Wir lernen in der und mit der Fülle des Lebens zu sein.

    Essen ist natürlich weit mehr, es ist das bindende Glied im sozialen Gefüge.

    Wir erleben unsere Einzigartigkeit und das uns mit dem anderen Verbindende. Beim Essen, Genießen — am besten mit Freunden — erwächst aus unserer Mitte ein einfühlendes Verständnis für die Welt und den anderen.

    Joseph Beuys meinte: „Wir sind alle Künstler.“ Er meinte damit natürlich nicht, dass wir alle Bildhauer, Maler, Dichter sind, sondern vielmehr, dass wir in der Ausbildung unserer Sinnlichkeit und unserer sozialen Fähigkeiten zum Künstlertum berufen sind. In unseren Festen, in den Festgestaltungen, drücken wir unser künstlerisches Vermögen am ausdrucksvollsten aus.

    „Ein Leben ohne Fest —
    eine lange Straße, wo man nirgends einkehren kann“
    Demokrit , Fragment 230

    Feste stellen eine Zäsur in unserem Lebensrinnsal dar. Wir treten heraus aus den Plagen und dem Mühsal des Alltags. Nicht als Versöhnung mit dem Alltag sind Feste gedacht, sondern vielmehr als bewusster Freisetzungsakt: Die vom Alltag angelegten Fesseln werden gelöst, und das, was in uns an Künstlertum angelegt ist, kommt zum Ausdruck. Wir sind Gestalter unseres Selbst, und wir als Schöpfer erstehen im Fest zum lebendigen Kunstwerk mit den anderen im Fest.

    Schneller als uns lieb ist, kommen wir in die Hälfte unseres Lebens.

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