Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Während er im Sterben lag, hatten sie sich seelenruhig über ihn gebeugt und auf den Auslöser gedrückt. Hinterher inszenierten sie den Mord, als wäre ihre Tat nichts weiter als ein großer Spaß. Dieser Zynismus war mehr, als ich ertragen konnte. Ich lag tagelang im Bett. Das Video machte mich regelrecht verrückt. Ich zweifelte an mir, an meinem Begriffsvermögen, an meinen Vorstellungen von der Welt, an der ganzen Menschheit. Bis heute verstehe ich nicht, wie jemand zu solcher Grausamkeit in der Lage sein kann.
Und dann stellte sich ein neues Gefühl ein: Wut. Jahrelang hatte ich mich danach gesehnt, endlich die wahren Motive der Mörder meines Vaters zu erfahren. Nun wünschte ich mir, dass das alles nicht wahr wäre. Ich war wütend auf die Wahrheit!
Am 26. Januar 1998 gegen 8 Uhr 55 stieg Uwe Böhnhardt in seinen roten Hyundai, schlug die Tür zu, drehte den Zündschlüssel und fuhr weg. Einige Polizisten standen tatenlos daneben, während er Gas gab, sahen ihm nach, wie er verschwand. Ein Abgang, bizarr in seiner Banalität. Böhnhardt fuhr einfach weg.
An diesem Morgen waren mehrere Beamte zu der Wohnung in Jena gekommen, wo der Zwanzigjährige bei seinen Eltern lebte. Der junge Mann wusste, dass er bereits mit einem Bein im Gefängnis stand. Eine Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten, unter anderem wegen Volksverhetzung, war kurz zuvor rechtskräftig geworden. Aber die Beamten wollten Böhnhardt gar nicht festnehmen, sie hielten ihm nur einen Durchsuchungsbeschluss hin. Es ging um mehrere Garagen, in denen die Polizisten Material vermuteten, das zum Bau von Bomben geeignet sein könnte.
Sie gingen mit Uwe Böhnhardt zu einer dieser Garagen in der Nähe der elterlichen Wohnung. Er sah zu, während sie den Blechschuppen durchsuchten und nichts darin fanden, er ließ es geschehen, als sie ebenso ergebnislos sein Auto filzten, er gehorchte, als sie ihn aufforderten, den Wagen ins Freie zu manövrieren, um mehr Platz zu haben, er stand daneben, als die Beamten einen Sprengstoffsuchhund umherschnüffeln ließen und noch immer nichts entdeckten. Irgendwann stieg er schließlich in sein Auto und fuhr weg. Die Polizisten ließen ihn ziehen, schließlich verfügten sie weder über einen Haftbefehl, noch hatten sie bei dieser morgendlichen Aktion etwas gefunden, das eine Festnahme gerechtfertigt hätte.
Ein paar Minuten später, gegen neun Uhr, begannen andere Polizeibeamte, eine weitere Garage in der Nähe der Kläranlage von Jena zu durchsuchen; Böhnhardts Lebensgefährtin Beate Zschäpe hatte sie gemietet. Ein Feuerwehrmann öffnete mit dem Bolzenschneider ein Vorhängeschloss, die Polizisten traten ein – und fanden viel mehr, als sie erwartet hatten, erschreckend viel mehr. In einem Schraubstock klemmte eine halbfertige Rohrbombe, bereits zurechtgebogen und mit Drähten versehen, daneben lagen vier fertiggestellte Sprengsätze sowie anderthalb Kilo TNT, und von der Wand herab, sauber gerahmt und hinter Glas, blickte Rudolf Heß. Rechtsradikale in ganz Europa verehren Hitlers Stellvertreter als Helden und Märtyrer. Von 1945 bis zu seinem Freitod 1987 verbüßte Heß im Kriegsverbrechergefängnis Spandau eine lebenslange Haft, im Nürnberger Prozess hatte er erklärt: «Ich bereue nichts.»
Wenn die Polizei an jenem 26. Januar 1998 die Durchsuchungen besser koordiniert und alle Garagen gleichzeitig geöffnet hätte, wäre Böhnhardt vermutlich keine Zeit zur Flucht geblieben, denn dann hätten die Beamten an Zschäpes Garage vielleicht schon Alarm geschlagen, während die Kollegen Böhnhardts Auto noch untersuchten. Wenn. Wäre. Hätte. Tatsache ist: Er war weg, als die Rohrbomben entdeckt wurden.
Als Böhnhardt mit seinen beiden Gesinnungsgenossen Uwe Mundlos und Beate Zschäpe abtauchte, waren sie den Behörden schon seit Jahren bekannt. Uwe Böhnhardt, geboren am 1. Oktober 1977, war erstmals mit vierzehn Jahren auffällig geworden; und als er fünfzehn war, umfasste die Liste seiner aktenkundig gewordenen Verfehlungen bereits zwanzig Einzeltaten: Er hatte Pkws geklaut, Kioske aufgebrochen und versucht, einem anderen Jugendlichen Geld abzupressen – um der Forderung Nachdruck zu verleihen, schlug Böhnhardt dem Opfer mit der Faust in den Bauch und trat ihm mit den Stahlkappenschuhen ins Gesicht. Mehrmals wurde Böhnhardt zu Gefängnisstrafen verurteilt, allerdings immer auf Bewährung. Zweimal musste er jeweils drei Monate in Untersuchungshaft verbringen. Erst 1997 wich ein Gericht
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