Schmerzspuren
als Sänger erwogen und ihn genötigt vorzusingen. Aber wir mussten ihm zustimmen. Er konnte wirklich keinen Ton halten. Wir hätten uns vor Lachen fast in die Hose gemacht. Außerdem hatten wir Philipp dazu auserkoren, uns die ganzen Groupies vom Hals zu halten.
»Mit deinem Gesicht fällt dir das ja nicht schwer. Das schreckt die schon genug ab«, hatten wir ihm grinsend mitgeteilt.
»Mädels, die auf euch stehen, müssen doch Gefallen an Hässlichem finden. Dann sind sie ja bei mir genau richtig«, hatte er gekontert.
Philipp war witzig. Und er hätte eben auch einen coolen Bandnamen gewusst. Vielleicht hat dieser Max ja eine gute Idee. Wer weiß, vielleicht ist er ja überhaupt ein guter Typ. Einer zum Quatschen. Ich sitze auf dem Bett, mit dem Rücken an der Wand. Ich spüre jeden einzelnen Wirbel wie Erbsen in einer Schote. Mein Daumen geht immer wieder
über den Rücken des Messers. Völlig bescheuert, aber es fühlt sich gut an.
Vor der ersten Probe muss ich allerdings erst ins Mittelalter. Ich hatte echt gehofft, mir noch einen fetten Magen-Darm-Virus einzufangen. Oder zumindest eine fette Erkältung. Es kommt noch nicht mal ein Kratzen im Hals oder Durchfall. Ich muss also mit auf unsere Klassenfahrt. Zwei Tage lang müssen wir uns auf einem mittelalterlichen Markt mitten im Nichts vergnügen.
»Vielleicht können wir uns ja mal Hanfanbau erklären lassen. Dann hätte dieser blöde Ausflug noch einen Sinn«, sage ich zu Steffen und Sebastian, die im Bus hinter mir sitzen. Sie lachen fett und unterhalten sich weiter. Neben mir sitzt keiner. Ich starre wieder raus. Unser Bus kriecht einen Berg hoch. Oben versteckt sich unter reichlich Efeu eine alte Burgruine, im Hof lärmt das Markt-Spektakel. Auf einer Wiese sind riesige Zelte aufgeschlagen. In zwei davon dürfen wir für eine Nacht schlafen. Ich weiß jetzt schon, dass ich hier kein Auge zumachen kann. Alle andern um mich herum kramen völlig hektisch ihre Sachen zusammen, lärmen durcheinander, drängen zur Tür. Ich würde am liebsten im Bus sitzen bleiben. Die Zelte sind original vom DRK und innen drin sind Bettgestelle aufgebaut. Ist ein bisschen wie nach einem Flugzeugabsturz. Die Typen an den Ständen sehen aus, als hätten sie in dem Flugzeug gesessen. Außerdem ist alles hier der totale Fake. An den Ständen bieten sie brüchiges Töpfergeschirr an und im Hintergrund jault eine billige Kompaktanlage mit schlechten Boxen. Die Pferde bei den Ritterspielen sehen aus, als wären sie auf einer Kirmes schon zehn
Jahre im Kreis gelatscht. Während unseres Rundgangs hält der Neu die ganze Zeit einen Schirm hoch. Damit wir Küken auch bloß nicht unsere Entenmama verlieren. Ich lasse mich ein bisschen zurückfallen und irgendwann sehe ich den blöden Sparkassen-Schirm tatsächlich nicht mehr. Eine faltige Frau spricht mich an. Ihr Gesicht ist genau so zerknittert wie ihr Rock. Sie will mir aus der Hand lesen, grapscht richtig nach mir.
»Einen Moment«, vertröste ich sie. Am Nachbarstand leihe ich einen Kuli aus und schreibe mir »Ich habe kein Geld« in die linke Hand.
»So, jetzt dürfen Sie«, sage ich zuckersüß zu der Alten und halte ihr die Handfläche hin. Sie zischt wütend und trollt sich. Ich schlendere weiter, stehe plötzlich an einem Tümpel. Lustlos lasse ich ein paar Steine über das Wasser hüpfen. Ich finde das alles hier so überflüssig. Die andern aus der Klasse sind total überdreht. Schon seit Tagen hatte es in den Pausen kein anderes Thema gegeben. Plötzlich habe ich eine Glasscherbe in der Hand. Offenbar wird hier gern mal gesoffen und dann die Flasche zerdeppert. Die Scherbe sieht aus wie ein Dreieck. Sehr gleichmäßig. Fast schön. Ich stecke sie ein, gehe weiter. Der Teich stinkt.
Der Neu ist stinksauer. Wo ich gewesen bin, warum ich nicht bei der Gruppe geblieben bin und so weiter.
»Ich habe irgendwie den Anschluss verloren.«
»Den Eindruck habe ich auch«, sagt Herr Neu ganz ernst und guckt direkt in meine Pupillen.
In meiner Jackentasche findet meine Hand die Scherbe. Ich weiß nicht, warum, aber ich schließe die Faust fest. Fester. Die Kanten schneiden sich ganz langsam in die Haut. Ich
drücke weiter. Es wird warm. Jetzt hätte die Handleserin mal eine hübsche Aufgabe.
Die Schnitte schmerzen bei jedem Schlag. Egal, wie ich die Stöcke auch halte, es brennt höllisch. Trotzdem haue ich richtig drauf. Schließlich soll dieser Max nicht denken, wir wären eine lahme Tanzkapelle im Dreivierteltakt.
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