Schmerzverliebt
doch auch nichts peinlich.«
»Okay: schrei!«
»Tu ich auch.« Er lässt meine Hände los, richtet sich auf, holt tief Luft und brüllt so laut, dass die Vögel zu zwitschern aufhören und es um uns herum nachher noch stiller ist als vorher, so still, dass ich glaube, unsere Herzen trommeln zu hören, vor Aufregung, Angst und Lust.
Und dann tun wir’s.
Auf dem Heimweg singe und hüpfe ich. Sebastians Duft klebt noch an mir. Ich könnte glatt auf die verrückte Idee kommen, mich nicht mehr waschen zu wollen.
»Also, deine Frisur ist wirklich toll!«, lobt mich meine Mutter beim Abendessen.
»Gefällt’s euch?«, frage ich. Ich will es noch mal hören.
»Super«, antwortet mein Vater, »siehst richtig hübsch aus. Wo hast du das machen lassen, bei Lindmann?«
»Ja.« Ich stehe vom Tisch auf, drehe mich einmal um die eigene Achse. Der Schnitt ist wirklich gut. Von meinen Verunstaltungen ist nichts mehr zu bemerken.
Meine Mutter lächelt mir zu. »Wir zwei wollten ja auch noch einkaufen gehen. Denk dran, viel Zeit haben wir nicht mehr. Wie wär’s morgen nach der Schule?«
»Gerne.« Ich lächle. Eigentlich würde ich zwar viel lieber für das Casting trainieren, aber ihr Angebot ist so nett, dass ich es auf keinen Fall ausschlagen darf. Sie um einen anderen Termin, nach dem Casting, zu bitten, wage ich nicht, weil das vielleicht unverschämt klingen könnte. Außerdem will ich meine Teilnahme an dem Wettbewerb erst mal geheim halten.
»Also, zum Einkaufen komme ich auch mit.« Mein Vater strahlt. »Wirklich nett von dir, dich für Bennes Feier rauszuputzen.«
Das ärgert mich. Es geht ihnen doch wieder nur um Benne!
»Ich bin nicht für Bennes Feier zum Friseur gegangen, sondern weil ich es für mich wollte!«, sage ich.
»Tja, wer Model werden will …«, wirft Benne grinsend ein.
Oh nein! Ich lege die Scheibe Brot, von der ich gerade abbeißen wollte, zurück auf den Teller. Musste Benne das jetzt verraten?
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Model. So was Geistloses!«
»Aber ja doch! Sie geht nächsten Freitag auf ein Casting!«
»So ein Quatsch!«, sagt mein Vater. »Püppi! Das stimmt doch nicht, oder?«
Ich schweige. Jedes Wort von mir kann jetzt nur ein falsches sein. Stumm starre ich auf meinen Teller und hoffe, dass es vorbeigeht.
»Sicher! Sie machen ein Casting zum Auftakt der Dorfkirmes. Und Pia ist angemeldet. Ich hab’s selbst gesehen!«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Ich glaube den entsetzten Blick meines Vaters förmlich als körperlichen Angriff zu spüren, habe das Gefühl, sein Blick drücke mich von meinem Teller weg, vom Tisch, vom Stuhl, bis an die Wand.
»Püppi hat eben andere Interessen als die Umweltgruppe«, sagt Benne.
In dem Moment erscheint Sebastian vor meinem inneren Auge. Ich hebe den Kopf. »Übrigens: Ich bin doch noch mit ihm zusammen.«
»Mit dem Kramersohn?«, fragt mein Vater.
»Genau!« Ich weiß, dass ich mich mal wieder um Kopf und Kragen rede. Mir ist fast so, als wollte ich es, als wartete ich nur darauf, dass sie mich jetzt richtig fertig machen, es ist das übliche Spiel, ich kenne es und ich will es nicht anders.
»Und warum sagst du das gerade jetzt?«, ruft meine Mutter aufgebracht. »Wir haben gestern lediglich unser Missfallen an den Plänen seines Vaters geäußert. Du weißt, wie sehr wir uns in den letzten Jahren für die Renaturierung des Bahnhofsgeländes eingesetzt haben! Da wird wohl ein bisschen Kritik erlaubt sein. Gegen den Jungen hat keiner von uns etwas gesagt. Du bist wieder hysterisch geworden und hast dich in die alte Geschichte hineingesteigert, wahrscheinlich, weil du genau weißt, dass du damals nur deine Feierei im Sinn gehabt hast und dir alles andere egal war!«
Ja.
Ich renne den Trampelpfad an den Feldern entlang. Plötzlich knirscht es unter meinen Füßen. Ich bin auf eine Weinbergschnecke getreten. Das Häuschen ist unter meinen Schuhen zerborsten, aber das Tier lebt noch, windet sich, tastet mit den Fühlern.
Die Wut, die ich über mich empfinde, ist so stark, dass ich einfach nicht weitergehen kann. Ich sage mir, Pia, du hast es nicht absichtlich getan. Es hilft nichts.
Ich denke an meine Eltern. Ich liebe sie so sehr und mache sie doch nur traurig. Warum muss ich so oft mit ihnen in Streit geraten? Warum muss ich immer alles kaputtmachen? Auf einmal kommt es mir vor, als zertrample ich die Schnecke genauso, wie ich die Harmonie meiner Familie mit Füßen trete. Das ist Unsinn und ist es nicht, im Moment
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