Schmerzverliebt
aus der Schulzeit! Soll ich sie eben anrufen?«
»Nein!«, rufe ich heftig. »Es ist gar nichts passiert. Ein paar Jungs aus der Schule haben sich einen Streich erlaubt! Das gibt’s schon mal! Jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe!«
Ich muss mich beherrschen, um nicht loszuheulen, und Marlies Lindmann merkt’s, lässt Gott sei Dank von ihrer Fragerei ab und widmet sich wieder dem äußeren Erscheinungsbild meines Kopfes.
»Keine Sorge, das krieg ich schon wieder hin, ich mach dich wieder ganz besonders hübsch«, sagt sie aufmunternd und ich nicke stumm.
Sie könnte mir die Haare nun grün färben, einen Topfschnitt oder eine Glatze verpassen, ich würde alles über mich ergehen lassen.
»Püppi, bist du das?«, ruft meine Mutter aus dem Wohnzimmer. Sie haben schon gegessen, trinken jetzt Kaffee und essen den leckeren Obstkuchen aus dem Reformhaus. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
»Habt ihr noch ein Stück für mich?«, frage ich, bleibe aber in der Tür stehen.
»Wir dachten, du kämst nicht!« Mein Vater schiebt sich einen Bissen in den Mund. »Da haben Benedikt und ich uns dein Stück geteilt!«
»Sehr nett!«, sage ich enttäuscht.
»War nur ein Scherz.« Mein Vater hebt das Papier von der Kuchenplatte. Darunter liegt noch ein Stück. Mit Kirschen, meine Lieblingssorte!
»Bitte schön!« Er hebt es mir auf einen Teller. »Hast du jemals erlebt, dass du in unserem Haus nicht satt wirst?«
»Nein.« Ich schäme mich. Wie kann ich so schlecht von ihnen denken?
Das Dach der alten Schalterhalle hat viele Löcher, in denen Vögel brüten. Ich liege auf meiner Turnmatte und lausche dem Piepsen junger Spatzen. Bis vor ein paar Minuten habe ich ein bisschen getanzt. Jetzt ist es vier und Sebastian kann jeden Moment kommen. Wenn er denn kommt.
Oh bitte, komm!
Manchmal wünsche ich mir jemanden, dem ich von mir erzählen kann, von meiner Wut auf mich, von meinen Attacken gegen mich selbst. Ich wünsche mir jemanden, der mich in die Arme nimmt und sagt, dass alles wieder gut wird. Aber das ist wahrscheinlich zu viel verlangt.
Ich stehe auf und horche. Noch immer nichts. Ob ich Sebastian doch verschreckt habe? Unruhig beginne ich auf und ab zu gehen, versuche wieder meine Tanzschritte, lenke mich ab, schalte die Musik an, bewege mich, halte inne, lausche: Nichts, also weitermachen, wenn er doch noch kommt, soll er bloß nicht denken, ich hätte auf ihn gewartet. Dabei ist es natürlich so. Mein Magen gluckert vor lauter Aufregung, und meine Hände werden feucht, sobald ich draußen nur das leiseste Geräusch höre.
Heute Mittag am See war ich froh über seine Anwesenheit. Nicht nur, weil ich ihn vermisst hatte, nein, auch weil er mich vor mir selbst schützte. Weil ich mich schon die ganze Zeit danach sehne, dass ich jemandem von meinen Problemen erzählen kann. Und Sebastian kann zuhören, das mag ich an ihm.
»Gar nicht schlecht!« Sebastian lugt durch die Ritzen zwischen zwei Holzbrettern am Fenster.
Ich bleibe stehen, öffne den Mund, bin aber unfähig, etwas zu sagen.
»Hey, Pia! Lässt du mich zu dir oder müssen Zuschauer draußen bleiben?«
Ich eile zur Tür und öffne sie ihm. »Hier entlang!«
»Das ist ja klasse hier!«
»Ja!« Ich strahle. »Mein eigenes kleines Reich.«
Er kommt herein und ich schließe die Tür hinter ihm.
»Bist du oft hier? So ganz allein, meine ich?«
»Fast jeden Tag.«
»Und hast du keine Angst?«
»Wovor denn? Hier kommt doch keiner hin und einstürzen wird’s wohl nicht so bald.« Ich lege den Kopf in den Nacken und zeige zur Decke. »Da oben ist ein Spatzennest. Die sind vom Aussterben bedroht, weil sie in den neuen Dächern keine Nistmöglichkeiten mehr finden. Hier brüten sie noch, siehst du?«
Er kommt zu mir, stellt sich dicht neben mich.
Eine Weile verharren wir so, schweigend.
»Magst du mich noch?«, frage ich schließlich.
Er lächelt. »Mit kurzen Haaren bist du genauso hübsch wie vorher.«
»Ich meinte eigentlich … bist du noch sauer?«
»Nein.«
»Ich hätte nicht so einen Aufstand machen sollen.«
»Bennes Worte haben mich heute Morgen ganz schön fertig gemacht. Ich weiß eigentlich immer noch nicht, ob du mich überhaupt zum Freund willst oder nicht.«
»Doch, natürlich will ich das. Ehrlich.«
Er sieht mich aufmerksam an und stutzt plötzlich. »Du hast ja was Kurzärmeliges an!«
Ich bemühe mich zu lachen. »Ja und? Es ist warm!«
»Und deine Stiche?«
Ich drehe meine Arme. »Sind alle weg!«, sage ich forsch.
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