Schmerzverliebt
Rettungsanker. Wenn Sebastian Benne jetzt verzeiht, muss ich niemanden enttäuschen.
»Wir können ja verstehen, dass du sauer bist«, sagt meine Mutter sanft. »Aber du musst unsere Entschuldigung auch akzeptieren.«
»Ich muss gar nichts!«, ruft Sebastian außer sich. »Außerdem nützt mir Ihre Entschuldigung gar nichts. Das müsste schon von Benne selber kommen, ich steh schließlich auch allein hier und hab nicht meinen Vater vorgeschickt!«
Wie zur Bestätigung drückt sein Vater die Autohupe und macht Sebastian ein Zeichen, wieder zurückzukommen.
»Aber ich hab mich doch entschuldigt!«, ruft Benne, und Conny fügt hinzu: »Mann, was willst du denn, dass er vor dir auf die Knie fällt?«
Sebastian geht nicht darauf ein. »Bei dem Schlag hätte Schlimmeres passieren können«, sagt er stattdessen leise. »Ich hab einfach nur wahnsinniges Glück gehabt. Einer der Nägel hätte mich ins Auge treffen können …«
Meine Familie schweigt, Conny beißt auf ihre Lippe.
»Pia, was ist jetzt?«
»Ich …«
Pause.
Alle sehen mich an. Es ist ein Gefühl, als würden sie mich auseinander reißen. Da zieht meine Mutter Benne und meinen Vater vorsichtig nach hinten ins Haus. »Lasst Püppi allein. Sie muss das allein entscheiden.«
Sie gehen, nur Conny bleibt noch einen Augenblick. »Püppi«, sagt sie, »überleg dir das gründlich! Weißt du, was in der Schule los ist, wenn das rauskommt?«
»Conny!«, ruft mein Vater von drinnen. »Komm bitte rein!«
Sie klopft mir auf die Schulter und geht. Vorher sagt sie noch: »Und vergiss nicht: Er ist schließlich dein Bruder!«
In dem Moment erinnere ich mich wieder an meinen Auszugsversuch als Kind. An Bennes Gesicht hinter der Fensterscheibe: »Dein Zimmer gehört jetzt auch noch mir!« An meine Eltern, die die Tür hinter mir geschlossen hatten. An den nasskalten Herbstwind, die schweren Plastiktaschen voller Zeug, die Trageriemen, die in meine Handflächen schnitten.
»Pia, bitte. Es tut mir Leid, dass du das mitmachen musst, aber du warst doch dabei.«
»Ja, Sebastian. Aber ich kann nicht gegen meinen eigenen Bruder aussagen. Es tut mir Leid.«
Er nickt langsam, seine Augen schimmern feucht. »Okay«, flüstert er mit erstickter Stimme. »Es braucht dir nicht Leid tun. Mir tut es Leid. Für dich. Weil du so nie gesund werden wirst, wenn du immer nur tust, was deine Familie will. Aber, bitte, zwischen uns ist es aus, dir ist nicht zu helfen. Also, bleib ruhig da. Schneid dir von mir aus die Pulsadern auf, bring dich um, mir doch egal! Ich bin vielleicht dick und ich bin vielleicht unglücklich und allein, aber ich bin nicht reif fürs Irrenhaus, ich nicht!«
Sebastian rennt zum Auto. Es ist außen dunkelgrün und riecht innen nach Duftbäumchen. Einmal bin ich damit gefahren, gestern, vor langer Zeit, als die Welt noch in Ordnung war. Nachdem der Wagen nicht mehr zu sehen ist, drehe ich mich zum Haus um. Die Tür ist geschlossen. Auf dem blau gestrichenen Holz kleben die Reste des mit Kreide geschriebenen Dreikönigssegens. »Hier wohnen Thomas, Anne, Benedikt und Pia. Gott schütze dieses Haus.«
Auf einmal fällt mir ein, wie Lukas damals, in jener Nacht, als auch die Katzen verschwanden, mit mir im Zelt übernachtet hat. Ich hatte gerade zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen, was nicht unbedingt schön, auf jeden Fall aber sehr aufregend gewesen war, und saß eng an ihn gekuschelt am Rand des kleinen Goldfischbassins unseres Nachbarn. Der Mond schien hell, Lukas rauchte schweigend und trank mit mir den letzten Rest aus einer Rotweinflasche, ich fühlte mich hundeelend und gleichzeitig stark und erwachsen, glücklich eigentlich, bis zu dem Moment, in dem Lukas seinen Zigarettenstummel achtlos in das kleine quadratische Goldfischbassin warf, das Prunkstück des Nachbargartens, nachts von einem Strahler unter Wasser angeleuchtet. So konnten wir sehen, wie einer der dicken Goldfische, in der Erwartung, ein Stück Brot zu bekommen, auf den Zigarettenstummel zuschwamm, sein Maul öffnete und ihn verschlang. Kaum hatte der Fisch seinen fatalen Irrtum bemerkt, machte er würgende Bewegungen, krümmte und wand sich, doch vergebens, er konnte den Happen nicht ausspucken, sondern glitt mit der Nikotinladung im Bauch, nun deutlich schlapper als vorher, davon. Ich erschrak, das Tier tat mir Leid, Lukas lachte nur. Er nannte die Fische »cool« und machte sich daran, die nächste Zigarette für sie vorzubereiten. So hatte ich ihn nicht eingeschätzt. Enttäuscht
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