Schmetterlingsgeschichten - Chronik III - One (German Edition)
es
verantworten, dass er Millionen von Soldaten zum Abschlachten losschickte.
Wenigstens waren sie schon so weit in der Geschichte der Menschheit gekommen.
Nach der »Eingliederung«, die sogar in ihrem Land begonnen hatte, waren alle
Regierungen von der Union aufgefordert worden, Waffen und Mittel, die aggressiv
gegen die neuen »Regenten« eingesetzt werden konnten, wegzusperren oder zu
vernichten. Allerdings hatte die Union das »Wegsperren« vorgezogen, da sie
zügig mit ihrer Umstrukturierung beginnen wollte. So hatten sie selber das
Personal abgezogen, das die Waffen hätte vernichten können. Sie lagerten jetzt
einfach in den Depots der einzelnen Armeen.
Es
gab wohl einen Trupp, der die Länder dieser Erde systematisch abarbeitete und
dabei die Waffen vernichtete, doch den genauen Stand der Dinge wusste sie
nicht. Wie auch?
Sie
war ja jetzt mit ihren drei Leibwächtern hier seit vier Wochen eingesperrt. Und
niemand hatte mehr nach ihr gesucht.
Dass
der Reichstag für die Invasoren überhaupt nicht von Interesse war, hatte sie
gleich gemerkt.
Ihr
Blick galt von Anfang an dem Vertreter aller Menschen in dem UNO-Gebäude. Und
das stand halt in New York.
Paris,
Berlin, London, Athen - sie alle waren uninteressant.
Die
Union wollte EINEN Ansprechpartner, den sie in der UNO-Präsidentin fand.
»Pech für meine japanische Freundin«, dachte sich die Kanzlerin.
Hier
unten hatte sie viel Zeit zum Nachdenken, denn mit ihren Bodyguards fühlte sie
sich zwar sicher, aber für eine Konversation fehlte ihr mittlerweile die
Geduld.
In
den ersten zwei Wochen hatten sie sich noch miteinander unterhalten, und sie
waren sich auch alle einig, dass sie die gleichen Wertevorstellungen, dieselben
Ziele im Leben hatten, alle spürten dasselbe ausgeprägte Rechts- und
Schuldbewusstsein, aber ab da gingen ihre Welten auseinander.
Wenn
die Bodyguards Dienstschluss hatten, dann gab es keine Arbeit mehr. Sie legten
ihre Garderobe ab, und dann waren sie die Privatleute, die ihrem privaten Kram
nachgingen. Der eine hielt sich fit, der andere ging mit seiner Freundin die
Einkaufsmärkte abklappern, und noch ein anderer schaute sich das Abendprogramm
im Fernsehen an. Er mochte wohl Raab.
Aber
die Männer waren anders als sie. Für die Kanzlerin gab es keinen Feierabend.
Denn
ab hier konnten sie dann kein gemeinsames Gesprächsthema finden.
Während
die anderen sich noch in der Lage sahen, sich über die Beziehung von
Teilnehmern einer Hausgemeinschaft, die live im Fernsehen übertragen wurde,
lustig zu machen und sich über die modischen Fehltritte zu amüsieren, saß sie
nach der Arbeit nur da und ging ihren Gedanken, ihren Visionen nach, die sie
strukturierte, nach ihrer Realisierbarkeit abschätzte und dann in Angriff
nehmen wollte.
Sie
hatte es nicht so sehr, sich im Privatleben von anderen zu suhlen und sie dann
danach zu bewerten.
Aber
generell unterhielten sich die Männer viel über das Fernsehen. Sie sprachen
über den Fußball, allerdings auch nur über das, was sie im TV gesehen hatten.
Sie sprachen über Sidney Bears und Haris Pilton, dass sie widerliche Schlampen
seien, mit denen Männer niemals eine Familie gründen würden, gar mit ihnen alt
werden wollten. Sie hassten es, dass sich junge Frauen an ihnen orientierten
und schworen, sich hier unten in ihrer Gefangenschaft, dass sie alles unternehmen
würden, ihre Kinder, speziell ihre Töchter, mit einem Würdeempfinden ihrem
eigenen Körper gegenüber und einem respektvollen Miteinander zu versehen.
Doch
genau in dem Moment, indem die Kanzlerin sich von der Dreier-Gruppe ein wenig
entfernt hatte, wusste sie wieder, warum sie das alles tat.
Sie
betrachtete die Dinge mit einem gewissen Abstand. Sie schaute sich die
Bewegungen an. Sie hörte den Menschen, wie sie hier waren, einfach gerne zu. Es
war diese Einheit, diese Verbundenheit, die diese Männer erzeugten,
ausstrahlten, die die Männer selber schützten, und wenn es in ihrer Macht
stand, verbessern wollten.
Das
»Ganze« sollte gut laufen, in einer Welt, die nicht stillstand, sondern sich
bewegte. Und wenn es ihr gelang, konnte sie dabei bis zu jedem Einzelnen
dringen und ein wenig für ihn sorgen. Aber generell galt es, das Schiff
Deutschland, in und mit all seinen Bewegungen, in einer rauen See zu steuern.
Und
das konnte sie genau hier anhand dieser Minigruppe sehen.
Dass
sie jetzt beim Denken zehn Kilo abgenommen hatte, war ein positiver
Nebeneffekt.
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