Schmetterlingsjagd (German Edition)
Teller zwischen uns und dampft. Er nimmt sich ein Stück, pustet darauf und verschlingt es in großen Bissen, ohne seinen Blick von mir zu wenden.
«Na ja …» Ich zögere. «Die Mädchen haben mir ihren Kulturbeutel mit ihren Schminksachen gegeben. Aber viel haben sie nicht erzählt.»
«Hab ich dir ja prophezeit.»
«Sie waren nicht abweisend oder so. Sie hatten nur zu tun. Und ich glaube, dass sie nicht viel über ihr Leben außerhalb des Clubs wussten.»
Flynt greift schon nach dem zweiten Stück. Unsere Hände berühren sich über dem Teller, und er lacht und zieht seine zurück, damit ich ein Stück nehmen kann.
«Und das war’s?», hakt er nach. «Ist das alles, was du herausgefunden hast?»
«Na ja, also, ich hab auch noch mit dem Geschäftsführer gesprochen … aber ich hab mich eigentlich mehr bei ihm beworben. Du weißt schon.» Ich manövriere das Pizzastück auf meinen Teller und warte, dass es ein bisschen abkühlt. Ich will ihm nicht von Gordon erzählen. Warum, weiß ich auch nicht so genau.
Vielleicht will ich nicht, dass er mitkriegt, dass Gordon mir gefallen hat.
«Ich habe gedacht …», setze ich wieder an und fixiere den seidigen Käsefaden an seiner Oberlippe. «Wo du dich hier doch so gut auskennst und all das … ich meine, vielleicht kannst du mir helfen. Ein bisschen herumfragen für mich. Du kennst hier jeden und ich nicht.» Ich nehme die etwas abgekühlte Pizza und beiße drei Mal ab.
Er trommelt mit den Fingern auf dem Tisch herum und wischt ein wenig Pizzasoße mit der Serviette weg, die er in der Faust zerknüllt. Dann nimmt er sich sein drittes Stück und schiebt sich die Hälfte davon in den Mund. Ich habe seit langem niemanden mehr so gierig essen sehen. «Das geht mich eigentlich nichts an», sagt er schließlich. «Dich auch nicht. Ich sag es dir ungern, aber hier sterben alle naslang irgendwelche Leute.»
Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Ich klammere mich am Tisch fest und versuche, den Ärger herunterzuschlucken. «Ich weiß, dass es sie nicht zurückbringt», sage ich. «Ich kannte sie nicht einmal. Okay? Ich kannte sie überhaupt nicht. Aber … aber es ist einfach richtig. Und ich muss es tun. Für sie, ja. Aber vor allem für mich selbst.»
Ich beobachte ihn, halte die Luft an und zähle dabei bis sechs. «Und», fahre ich leise fort, «ich nehme an, ich brauche jemanden, der … für mich da ist, wenn ich ehrlich bin.»
«Ich denke darüber nach», sagt er schließlich und hebt langsam den Blick, der erst zu mir gleitet und dann an den beiden letzten Stücken Pizza hängenbleibt, die fettig glänzend auf dem Pizzablech liegen. «… willst du das noch essen …?»
***
Eine Stunde später, um drei Uhr morgens, bin ich wieder zu Hause und kann noch nicht ins Bett gehen.
Ich betrachte mein Gesicht im Schlafzimmerspiegel und höre in meinem Kopf, wie Gordon das Wort sagt: schön. Mein Finger fährt über die Narbe über meiner linken Augenbraue, wie eine tiefe Delle liegt sie in meinem Gesicht. Ich habe sie bekommen, als ich in den Bach am Fuß des Hügels in der Nähe unseres Hauses in Minnesota fiel (Oren hatte ihn den «Pobach» getauft, als wir ihn entdeckten). Wir waren auf der Suche nach Münzen. Natürlich hatten wir einen Wettbewerb laufen, wer am meisten finden würde. Oren machte aus allem einen Wettbewerb. Er entdeckte eine Münze am Ufer, warf mir den «Wer ist erster?» -Blick zu und schrie «LOS!». Ich wollte endlich auch einmal gewinnen, rannte viel zu schnell, blieb mit meinem linken Fuß an einer Wurzel hängen und fiel kopfüber in den Pobach.
Später konnte ich mich nur an das eiskalte Wasser erinnern, wie es die Luft aus mir herauspresste, und an die Gewissheit, dass ich sterben würde – und dann an Orens Arme, die mich zurück ans Ufer zogen. Er merkte sofort, dass ich blutete. Ich selbst spürte gar nichts, bis ich mit der Hand die Wunde berührte und sie ganz blutig war.
Wenn ich danach wütend auf ihn war, musste er nur seine Augenbrauen heben und sagen: Denk dran, dass ich dir damals das Leben gerettet habe.
Ich starre so lange in den Spiegel, bis ich anfange zu schielen und ein riesiges grüngraues Zyklopenauge auf meiner Stirn erscheint. Ich zwinkere, bis ich wieder zwei Augen habe, und das Zyklopenauge verschwindet.
Dann nehme ich Sapphires Schminktäschchen aus meiner Tasche und lege es auf meinen Nachttisch. Ich wühle mich durch seinen Inhalt. Sofort fällt mir der Lidschatten auf – er ist von
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