Schmetterlingsjagd (German Edition)
einem dunklen Nachtblau, das sich «Mitternacht» nennt – und verteile etwas davon auf meinen Lidern. Sobald ich meine Augen öffne, überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl. Ich schaue in den Spiegel und könnte schwören, dass nicht ich hier sitze und mich im Spiegel anschaue, sondern sie. Sapphire.
Ich greife wieder in ihr Schminktäschchen und taste nach Sapphires wichtigstem Kennzeichen – dem blauvioletten Lippenstift, mit dem ihre Lippen immer irgendwie wund aussahen – aber er ist nicht darin. Ich kippe den Inhalt des Täschchens auf den Tisch, das meiste davon ist dasselbe in mehreren Ausführungen; aber der Lippenstift ist nicht darunter.
Nachdem ich einen letzten Blick in den Spiegel geworfen habe, auf meine Augen, die Sapphires jetzt so sehr ähneln, gehe ich ins Badezimmer und wasche mein Gesicht immer und immer wieder. Zurück im Schlafzimmer, stopfe ich Sapphires Schminksachen wieder in ihr Täschchen, dann lege ich es in die Mitte zwischen sechs hohe silberne Kerzenhalter. Es sieht aus wie die dunkle, gewölbte Mitte einer Blüte, und die Kerzenhalter beschützen es. Da erinnere ich mich an den Aschenbecher, der noch geduldig in meiner Tasche wartet. Mit beiden Händen hole ich ihn heraus und stelle ihn in eine Reihe neben ein leicht angerostetes Zigarettenetui mit den eingravierten Initialen GTB und drei lange, flötenförmige Zigarettenhalter.
In meinen Gedanken schwebt Sapphire elegant als dunkle, geduldige Silhouette zwischen Tischen mit glänzenden handgravierten Aschenbechern herum – auf dem Boden, an den Wänden, der Decke – überall Aschenbecher. Ob sie geraucht hat?
Das muss ich herausfinden, schwöre ich. Ich finde alles heraus. Irgendwie.
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Kapitel 12
«Penelope. Hallooo? Bist du noch bei uns?»
Ich nehme sofort Haltung an. Mr. Keller schaut mich streng an.
«Tut mir leid», sage ich. «Ich habe die Frage nicht gehört.»
«Ich habe gar nichts gefragt, Miss Marin. Ich habe nur die Hausaufgabe abgefragt, die Sie gestern aufbekommen haben. Ableitungen, die mit der Kettenregel gelöst werden sollten.»
Ich fühle mich, als hätte ich die Kontrolle über meine müden Augen verloren. Es ist gar nicht mal so schlimm, dass ich komplett erschöpft bin, weil ich weniger als vier Stunden Schlaf bekommen habe. Aber ich kann einfach nicht aufhören, über Sapphire nachzudenken, über den Lippenstift, der fehlt, und über ihren Mörder. Ich kann nicht aufhören, über Flynt zu grübeln, über letzte Nacht. Ob er wohl wirklich darüber nachdenkt ? Oder war das nur die einfachste Methode, um mich abzuwimmeln? Ich will es wissen. Ich muss wissen, ob er mir hilft. Ich muss wissen, ob er sich wirklich darauf einlässt .
«Aufgabe 19, Seite 111, Miss Marin. Wie war noch mal Ihre Antwort?»
Keller ist einer der Lehrer, der meine Muster längst bemerkt hat, wahrscheinlich weil er ein Mathefreak ist und total in seinen Zahlen lebt. Einmal nach dem Unterricht hat er versucht, mit mir zu reden. Er hat behauptet, er verstünde mich, aber dass mein Getippe während der Klassenarbeiten die anderen ablenke. Er hat versucht, mich zum Vertrauenslehrer zu schicken, als ob das irgendwas bringen würde. Aber ich bin total rot geworden und hatte einen dermaßen staubtrockenen Mund, dass ich nicht antworten konnte. Ich konnte nicht einmal lügen und alles abstreiten oder sinnloserweise versprechen, dass ich niemals mehr tippen würde. Er verstand gar nichts . Er konnte überhaupt nichts verstehen.
Seit diesem Gespräch kommt es mir vor, dass er mein Tippen als persönliche Beleidigung empfindet, so als ob ich es absichtlich täte, nur um ihn vom Unterricht abzulenken.
Ich schlage das Buch auf, finde die Aufgabe und rechne schnell im Kopf.
«Das kann gar nicht unsere Hausaufgabe gewesen sein, das kommt erst in der nächsten Woche dran», antworte ich, «aber wenn die äußere Funktion Sinus ist und die innere Funktion drei Mal x zum Quadrat plus x beträgt, muss die Ableitung sechs x plus ein Mal Cosinus von drei x zum Quadrat plus x lauten.»
Er räuspert sich und hebt die Augenbrauen. «Gut, Penelope.» Er schnalzt einmal mit der Zunge, unsicher, wie er mich jetzt noch zurechtweisen soll, dann dreht er sich zur Tafel, um der Klasse ein paar neue Probleme zu erklären. Ich versuche mich zu konzentrieren, schaffe es aber nicht. Keine Chance. Meine Gedanken sind noch im Club, bei Sapphires Schminktäschchen, bei den großen Spiegeln der Garderobe, bei Marnies langem, rot
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