Schmetterlingsjagd (German Edition)
und ich renne hinterher und erreiche ihn tatsächlich ein paar Häuserblocks weiter. Keuchend steige ich ein und lasse mich auf einen Sitz am Fenster fallen.
Von meinem Atem beschlägt die Fensterscheibe in großen, wolkigen Os. Ein Satz aus Sapphires Tagebuch geht mir nicht mehr aus dem Kopf: Ich dachte immer, es würde sie nicht kümmern, wenn ich verschwinde, und ich hatte recht.
Mit dem Finger male ich Gesichter in den Fensternebel; wellige Münder, heruntergezogene Augenbrauen, Haare, als hätte man die Finger in die Steckdose gehalten. Ich wische sie wieder weg und fange noch einmal an. Sechs Kreise, achtzehn tiefgefrorene Haare pro Kreis. Zusammengewachsene Augenbrauen: drei. Ein riesiges O um alles herum. Noch ein Kreis um den ersten herum. Noch einen. Drei riesige Kreise, die alles umschließen.
Ob Oren wohl dachte, er wäre uns egal? Vielleicht ist er deshalb nicht zurückgekommen, vielleicht ist er deshalb irgendwo in einem verlassenen Gebäude verrottet. Er hat vielleicht geglaubt, wir hätten uns nicht einmal die Mühe gemacht, nach ihm zu suchen. Er wusste nicht, dass wir überzeugt davon waren, jeder von uns, jede einzelne Sekunde an jedem Tag, dass er zurückkommen würde . Diejenigen, die man liebt, soll man frei lassen, selbst wenn man es nicht will, dann kommen sie zu dir zurück. Das ist die Belohnung; der ewige Kreislauf; das Gesetz. Nach dieser Logik würde er zurückkommen. Sogar wenn er sich vollkommen in sich zurückzog und ihn anzuschauen so schmerzhaft war wie ein direkter Blick in die Sonne – er gehörte immer noch zu uns. Mein kluger, schmerzerfüllter Bruder.
Er war die ganze Zeit so nah. Nur ein paar Kilometer entfernt von uns. Und wir saßen da, warteten, taten nichts, während er in nichts zerfiel.
Wir dachten, er würde zurückkommen.
Vielleicht dachte Sapphires Mutter das auch, und deshalb suchte sie nicht. Vielleicht sind es genau die Dinge, von denen wir denken, dass wir sie glauben müssen, die uns am Ende töten; dann, wenn wir merken, dass wir falschlagen, und zwar in allem.
Ich schaffe es durchs Klassenzimmer (obwohl Weir mich direkt ansieht und in seinem üblichen grimmigen Tonfall sagt: « Bitte versucht doch, einen nicht allzu erbärmlichen Tag zu haben, Kinder.») Ich weiß, dass Weir mich für depressiv hält, für eine Irre. Er schaut mich jedes Mal direkt an, wenn er eine seiner besonders fiesen Bemerkungen macht. Offenbar glaubt er, dass sie auf mich am besten zutreffen.
Der Schultag zieht sich.
In den ersten paar Minuten im Englischunterricht leiert Miss Manning mit ihrer Erkältungsstimme die unterschiedlichen Darstellungen schicksalhafter Liebe bei Shakespeare herunter. Ich greife in meine Tasche und verstecke Sapphires Notizbuch in der Mitte von Romeo und Julia: Akt zwei, Szene drei (uralter Trick) und blättere in die Nähe der Seite, die ich gestern Nacht ganz vollgesabbert habe:
(18. Juni): Eigentlich wollte Bird gestern Abend vorbei kommen, aber er war vier Stunden zu spät und hat dann gegen die Tür gehämmert, als ob jemand hinter ihm her wäre. Ich wollte ihn eigentlich nicht hereinlassen – ich war echt sauer. Er hätte mir wenigstens eine SMS schicken können. Aber er hörte einfach nicht auf zu hämmern, bis ich die Tür dann doch aufgemacht habe. Er hatte schon wieder diesen komischen Blick. Ich kann ihn nicht beschreiben, aber er jagt mir Angst ein. Er wollte mir nicht sagen, was los ist, er wollte überhaupt nicht reden. Aber das ist nun mal der Fluch, wenn man jemanden liebt … man erträgt alles, auch wenn man sich die letzten zwei Monate ununterbrochen beschissen gefühlt hat. Man würde sich sogar mit dem Taschenmesser die Adern aufschlitzen, wenn der Geliebte das Blut bräuchte … ich werde wohl nie aufhören, ihn zu lieben. Manchmal hasse ich mich deshalb selbst .
Ich blättere zurück zu einem anderen Eintrag:
3. Februar: Ich weiß nicht so recht, was ich von Sex unter der Dusche halten soll, aber Bird liebt es … Marnie sagt auch, dass es eigentlich beschissen ist, aber sie liest oft die Sexkolumne von Dan Savage, und der sagt, dass es in der Liebe nun mal darum geht, «gut, großzügig und bereit» zu sein. Jetzt muss ich mir wohl nur noch etwas ausdenken, das ihm nicht gefällt, und ihn dann dazu bringen, dass er es trotzdem tut … aber mir fällt einfach nichts ein …
«Penelope.» Eine Stimme unterbricht Sapphires Gedanken. Miss Mannings Stimme. Ich hebe den Kopf. «Ja, ich spreche tatsächlich mit Ihnen, Miss
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