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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Ellison
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Schon seltsam, dass der Name hier das Intimste ist, was man miteinander teilen kann. Woanders sagt man sich gleich beim ersten Treffen seinen Namen. Aber für uns ist es das Geschenk, das wir uns machen. Das schönste Geschenk zum Jahrestag, das ich mir vorstellen kann. Etwas über ihn zu wissen, was ich noch nicht wusste … Hoffentlich ist es kein scheußlicher Name wie … Bob. Ich hasse den Namen. Jeden Tag versuche ich seinen Namen zu raten, aber er schüttelt nur den Kopf und sagt: «Verrat ich nicht.» Ich kann’s kaum erwarten … vier Monate noch!
    In ihren späteren Notizbüchern – immer noch von vor einem Jahr, wenn man den Datumsangaben glauben kann – ist Bird immer noch die Hauptperson, aber irgendetwas Grundsätzliches hat sich verändert: Sie schreibt oft, er «fliege fort» , er sei krank geworden. An einer Stelle schreibt sie:
    Als ich ihn neulich anfassen wollte, hat er mich angeknurrt wie ein wütender Hund. Vielleicht hat er bloß Hunger – ich glaube, er hat die ganze Woche noch nichts gegessen. Ich vermisse unsere nächtlichen Beutezüge im Giant Eagle, unsere Picknicks auf den Hausdächern anderer Leute …
    Ich frage mich, ob das wohl das Schlimmste war, was er ihr angetan hat: sie anzuknurren. Oder ist er gewalttätig geworden? Vielleicht wollte oder konnte sie darüber nicht schreiben. Vielleicht hat er eines ihrer Notizbüchlein gefunden und es gelesen, und dann ist er sauer geworden und hat sie geschlagen. Ob Bird irgendetwas mit dem Türsteher zu tun hatte?
    In einem Eintrag schreibt sie über ihre Mutter:
    Vor 437 Tagen bin ich nach Cleveland gezogen. Ich führe darüber Buch. Jeden Tag streiche ich die alte Zahl durch und schreibe die neue hinein. Heute ist der 437. Tag. So weiß ich immer, dass der Tag, an dem meine Mutter starb, der 437. Tag ist, seit ich aus Dayton geflohen bin und der 437. Tag, seit wir das letzte Wort miteinander gewechselt haben. Und jetzt werden es nur immer mehr Tage, das wird sich nie mehr ändern. Ich dachte immer, es würde sie nicht kümmern, wenn ich verschwinde, und ich hatte recht. Sie hat nicht einmal versucht, mich zu finden. Also haben wir uns für immer verloren, nehme ich an. Ich muss bald ein neues Büchlein anfangen. Heute ist Tag   1. An Tag 1 ist meine Mutter gestorben. Morgen ist dann Tag 2 .
    Welcher Tag es wohl heute in ihrem Büchlein gewesen wäre? Ich starre auf das Gewirr von Buchstaben und Zahlen auf dem Papier, und plötzlich begreife ich, wie jung sie war, als sie getötet wurde: neunzehn. Also war sie erst siebzehn, als sie dieses Tagebuch schrieb, in meinem Alter, und erst fünfzehn, als sie von zu Hause weglief. Fünfzehn. Sie hat nicht mehr mit ihrer Mutter gesprochen, seit sie fünfzehn war.
    Es fällt mir schwer, sie mir so jung vorzustellen. Auf den Bildern, die ich gesehen habe, sieht sie so viel älter aus. Das macht natürlich das Make-up. Aber es ist auch noch etwas anderes. Etwas in ihren Augen.
    Ich schlafe ein und kippe zur Seite, mit dem Gesicht auf dem Eintrag, den ich gerade gelesen hatte – irgendetwas über Bird, der immer weiter und weiter forttreibt. Im Traum starren mich Sapphires dunkle Augen aus den Buchstaben, Zahlen, unfertigen Kritzeleien heraus an. Schwärze; ein Knacken, und dann werde ich in eine Menschenmenge gedrückt. Krähen schießen aus dem Himmel herab und picken den Menschen die Gesichter von den Schädeln. Überall schweben schwarze Federn in der Luft, wie Konfetti an Silvester.
    Ich hebe die Hände, um mein Gesicht zu schützen, aber sie haben schon meine Hände gefressen.
    Ich versuche zu schreien, aber mein Mund ist nur noch ein gähnendes Loch zwischen Knochen, Knochen, Knochen.

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    Kapitel 14
    BIEBBIEBBIEBBIEB – ich reiße die Augen auf und starre ungläubig auf den Wecker: 7:15. Shit.
    Shit shit shit shit. In einer Viertelstunde muss ich in der Schule sein. SHIT. Meine Träume haben mich so betäubt, dass ich nicht einmal den Wecker gehört habe, der seit einer halben Stunde wie wild klingelt.
    Das Bustier drückt und zwickt unangenehm. Ich greife nach dem erstbesten Kleidungsstück, das in meiner Nähe liegt, und ziehe es über (ein blaubeerfarbenes Flanellhemd), schlüpfe in ein Paar zerknitterte schwarze Jeans, die auf dem Boden liegen, schnüre meine Chucks, stopfe eins der Notizbücher in meine Schultasche, klopfe tip tip tip, Banane und stürze wie verrückt aus dem Haus zur Bushaltestelle. Der Bus fährt in dem Moment los, als ich ankomme,

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