Schmetterlingsjagd (German Edition)
Jackentaschen, überallhin, damit sie bloß niemand sieht.
Ich sollte die Polizei rufen. Aber ich kann es nicht. Nicht nach dem letzten Mal.
«Hau ab!», schreie ich, Papierfetzen fallen aus meinen Fäusten.
Die Leute weichen mir aus. Niemand hilft. Niemand versucht es auch nur.
Ich zittere und muss mich sehr zusammenreißen, um nicht zu weinen. Ich fühle mich wie kurz vor dem Zusammenbruch, lehne mich an die Wand und taste mich zum Ausgang.
«Lo!» Mein Name hallt durch den Flur. «Hey, Lo!»
Wie durch einen Nebel sehe ich Keri Ram, die weiter hinten mit ihrem himmlisch-fließenden goldbraunen Haar an einem Klapptisch sitzt. Darüber hängt ein großes Schild: KARTEN FÜR DEN ABSCHLUSSBALL!! 25 DOLLAR IM VORVERKAUF!! NUR NOCH ZWEIEINHALB WOCHEN!! JETZT KAUFEN ODER DU WIRST NICHT FLACHGELEGT!
Ihr Schmollmund ist auf mich gerichtet, ebenso ihre langen, seidigen Wimpern, ihre Wangenknochen, ihre perfekten Porzellanzähne. «Boah. Alles okay mit dir?» Sie reicht mir ein Taschentuch. In der anderen Hand hält sie immer noch einen Stapel Abschlussballtickets – rosa, grün, rot. «Geht es um Jeremy?»
«Wa… was?» Ich lasse mich in die Hocke fallen. Ich kann mich einfach nicht mehr auf den Beinen halten. Papierfetzen fallen mir aus den Händen: Ich breite sie vor ihr aus. Auf einigen steht nur diese eine Zeile: Hau ab, Schlampe.
Keri hockt sich neben mich und legt mir eine Hand auf den Rücken. «Möchtest du darüber sprechen?»
«Jemand ist hinter mir her», heule ich los. «Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wem ich davon erzählen soll.»
Keri seufzt. «Hör mal, wer auch immer das sein mag, ich bin sicher , dass er bloß eifersüchtig ist.» Sie hilft mir wieder auf die Füße.
«Ja, bestimmt», murmele ich.
«Ernsthaft, Lo. Du bist so hübsch – auf diese ganz einzigartige Weise. Du siehst gleichzeitig alt und jung aus.» Sie neigt ihren Kopf zur Seite und kneift die Augen zusammen, um mich genau zu betrachten. Ich will schon den Mund öffnen, um zu widersprechen, aber sie redet einfach weiter: «Irgendwie unkonventionell oder so. Hast du schon mal bemerkt, dass die Mädchen, die bei Top Model gewinnen, immer die sind, die ein bisschen anders aussehen als die Masse? So ist das bei dir! Ernsthaft, hier gibt es eine Menge Leute, die gerne so wären wie du. Du weißt schon … besonders.»
Ich möchte sagen: Ich hab die Nase voll davon, besonders zu sein. Ich möchte sagen: Ich will ganz normal sein. Aber die Worte wollen einfach nicht herauskommen.
Keri sieht mich besorgt an. «Du wohnst da draußen in Maplebrook, oder?» Ich nicke schwach. «Warte eine Sekunde, ich schließe nur eben meinen Stand und fahr dich dann nach Hause. Es liegt sowieso auf meinem Weg.»
Ich habe einfach nicht die Kraft, das Angebot abzulehnen, also lasse ich es zu, dass sie sich bei mir einhakt und mich durch die Flure führt. Ich zähle die Spinde im Vorbeigehen: neun, zehn, elf; mein anderer Arm fühlt sich plötzlich sehr, sehr ungerade an. Ich zähle weiter und versuche, die aufkommende Panik zu unterdrücken. Sechzehn, siebzehn, achtzehn. «Später, Mealer», ruft Keri, als wir an Camille vorbeigehen, die gerade den Sitz ihrer Frisur im Spiegel ihres Spinds kontrolliert.
«Ich dachte, wir treffen uns heute nach der Schule …», entgegnet Camille mit einem sauren Unterton in der Stimme. Sie starrt mich an. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.
«Ich schick dir ’ne SMS, in zwanzig Minuten, okay?» ruft Keri ihr über die Schulter zu. Ich klopfe kurz tip tip tip, Banane , bevor sie sich wieder umdreht, und wir gehen durch die Tür und auf den Parkplatz. Keri führt mich zu ihrem Auto, ein glänzend roter BMW. Allererste Reihe. Eine warme Brise umweht uns. Keri zieht ihren Arm weg und bindet ihre Haare zusammen. Dann setzen wir uns in die kühlen Ledersitze ihres Autos. Vor meinem inneren Augen sehe ich immer noch meine acht Gesichter, wie sie zu Asche zerfallen.
Auf der Fahrt redet Keri mit mir über den Abschlussball, aber nur Bruchstücke dringen zu mir vor, sie unterbrechen den Fluss meiner Gedanken, die sich mit dem Türsteher beschäftigen. Ich denke darüber nach, wie zum Teufel er mich und meinen Spind gefunden hat und warum – warum er überhaupt Sapphire umgebracht hat. Irgendetwas Wichtiges fehlt, und ich habe das Gefühl, dass mir langsam die Kraft ausgeht.
«Lo.» Keris Stimme durchschneidet meine Gedanken. Ich hebe den Kopf und schaue sie an.
«Du schlägst
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