Schmetterlingsjagd (German Edition)
langsam, wie auf hoher See. Ich laufe unter den verwobenen Zweigen von Zitterpalmen, Schwarzbirken und Rotulmen entlang. Ich erinnere mich noch, als wir gerade nach Cleveland gezogen waren und Bob Solomon, unser kleiner Ökofreak-Nachbar – wie Dad ihn nannte – Schildchen mit der botanischen Bezeichnung an jeden einzelnen Baum in einem Radius von sechs Wohnblöcken klebte. Irgendwann waren sie alle abgefallen, aber Oren konnte immer noch jeden einzelnen beim Namen nennen. Er war immer überraschend: was er bemerkte, was ihm wichtig war.
Erinnerungen fließen durch die Flüssigkeit: wie wir unter dem riesigen Schuppenrindenbaum im Vorgarten saßen; wie Oren die Maserung des Holzes mit mikroskopischer Genauigkeit zeichnete, sein Gesichtsausdruck die reine, beseelte Konzentration; wie er auf Mrs. Hawthornes Hartriegel kletterte und so tat, als esse er die Blätter. Dabei kreischte er wie ein Affe. Ich verliere mich vollkommen in meinen Erinnerungen, sodass ich beinahe den unübersehbaren Riesenkerl übersehe, der sich in einem Hauseingang an der Ecke Maplebrook und Oak versteckt.
Es ist der Türsteher aus dem Tens. Der, den Gordon Jones Vinnie nannte. Ich erkenne die Tomatennase wieder, den knorpeligen Nacken. Das ist eindeutig er.
Und er ist nur einen Häuserblock von unserem Zuhause entfernt.
Ich ducke mich in den Schatten zweier dunkelblauer Geländewagen, die dicht hintereinander parken. Mein Herz klopft, der verdammte grüne Pulli klebt unter der Jacke an meiner Haut. Ich beobachte ihn. Er steht da, nicht weiter als fünf Meter entfernt, und lässt seine Zungenspitze immer wieder durch die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen schnellen. Er raucht, seine Augen zucken hin und her. Als ob er auf etwas wartet. Mein Herz pocht jetzt wie wild; irgendetwas sagt mir, dass er auf mich wartet.
Ich schaue ihm dabei zu, wie er an der Zigarette zieht und den Rauch wieder ausstößt, zieht und ausstößt, der Rauch wirbelt zwischen seinen Lippen hervor. Ich bin mir neunundneunzig-Komma-neun-prozentig sicher, dass ich ihn noch nie in dieser Gegend gesehen habe. Dass er jetzt hier steht, kann kein Zufall sein.
Pffft: Meine Hand streift aus Versehen das Blech des Ford Explorer, gegen den ich mich lehne. Der Kopf des Türstehers zuckt in Richtung des Autos, seine Finger tasten die gewaltigen Schenkel ab. Er bewegt sich langsam in meine Richtung, da klingelt das Handy in seiner Hosentasche. Er geht ran.
«Ja», sagt er leise und nickt heftig. «Ne. Ja, bestimmt. Okay.» Er schaut sich noch ein letztes Mal um, schnippt seinen Zigarettenstummel auf den Boden und eilt mit gesenktem Kopf auf eine schwarze Limousine zu, die gerade am Straßenrand hält. Das Licht ihrer Scheinwerfer durchschneidet die Dunkelheit.
Ich rühre mich nicht. Ich beobachte, lausche, versuche mich unsichtbar zu machen, kauere dicht am Boden. Die Autotür knallt zu, ein hartes, hohles Geräusch. Ich bin atemlos. Der Türsteher: Er war derjenige, der mich beobachtet hat. Kann es sein, dass er Sapphire getötet hat? Aber warum?
Ich muss an die heftig dahingekritzelten Worte denken: Jetzt weißt du, was Neugier anrichten kann. Sei vorsichtig …
Die Worte wirbeln und torkeln um mich herum, leuchten blutrot zwischen den kahlen Zweigen der Bäume. Sei vorsichtig. Sei vorsichtig. Sei vorsichtig.
Ich tippe mit dem Fuß auf den Kies. Neun Mal. Noch ein Mal. Achtzehn. Noch ein Mal. Siebenundzwanzig.
Auf dem Weg nach Hause zähle ich die Sprünge im Bürgersteig. Alle paar Sekunden fahre ich herum, voller Angst, dass mich die Limousine verfolgen, dass der Türsteher irgendwo aus dem Schatten treten könnte. In meinem Kopf schwirrt es immer noch, als ich zu Hause ankomme und die sauberen weißen Treppen zur Veranda hochsteige. Tip tip tip mit meinem rechten Fuß und dann mein linker, Banane . Ich öffne die Tür und trete ein, schließe drei Mal ab.
In meinem Zimmer lasse ich die Tasche auf den Boden fallen und öffne hastig den Reißverschluss. Die drei Gipsfrösche aus Sapphires Zimmer. Diese drei Frösche werden dafür sorgen, dass ich mich besser fühle, sicherer. Sie hätten Mom gefallen, als sie noch Dinge mochte.
Ich stelle sie unter meiner Keramik-Gänseblümchen-Sammlung im Dreieck auf, ihre Mäuler berühren sich. Dafür muss ich meine vierundzwanzig schmiedeeisernen Schlüssel neben meine Kasperlefiguren legen und meine glitzernden Hornkämmchen ein paar Zentimeter näher an meine Autokennzeichen aus Pennsylvania heranrücken. Das Licht fällt
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