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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Ellison
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habe total vergessen, dass ich meine Mom heute zum Arzt bringen muss. Du weißt doch, dass sie krank ist.»
    Er fällt in sich zusammen wie ein angestochener Luftballon. «Ist schon okay», sagt er.
    «Aber ganz bestimmt wann anders», füge ich hastig hinzu. Ich kann es kaum ertragen, ihn so zu sehen, wie ein getretenes Hündchen. «Vielleicht nächste Woche? Ich könnte uns eine Pizza bestellen oder so.»
    Sein Gesicht hellt sich sofort wieder auf. «Ja. Ja, das wär toll.»
    «Cool.» Eine ganze Woche, in der ich mir eine neue Ausrede ausdenken kann.
    «Eigentlich gibt es da noch etwas, das ich gerne fragen würde», beginnt Jeremy erneut. Seine Stimme ist jetzt ein bisschen höher als sonst. «Würdest du, ich meine, willst du vielleicht … zumAbschlussballmitmirgehen?» Den letzten Teil des Satzes sagt er wie ein Wort, sodass ich ihn erst nicht verstehe.
    « Was hast du gerade gesagt?», frage ich, ehrlich verwirrt.
    «Abschlussball», wiederholt er, diesmal langsam. «Ich möchte wissen, ob du vielleicht mit mir zum Abschlussball willst.» Ich höre jedes einzelne Wort, aber ich verstehe ebenso wenig wie beim ersten Mal.
    Ich zähle die Fliesen auf dem Boden (neun, zehn, elf …).
    «Jeremy, ich …»
    «Denk einfach darüber nach, okay?» Jeremy klingt jetzt viel selbstsicherer als ich ihn kenne. Sein schiefes Lächeln breitet sich auf seiner rechten Wange aus. «Denk einfach mal drüber nach und wäge es ab . Bis bald, Lo!»
    Und bevor ich noch etwas sagen kann, stiefelt er schon weiter, die Hände in die Taschen seiner engen Jeans gestopft.
    ***
    Auf dem Weg durch den Naturwissenschaftsflügel wäge ich den Abschlussball ab . Die peinlich kurze Fahrt mit der Limousine zur Sporthalle, die vielen glitzernden Designerfummel und die totenstarren, diamantenbesetzten Hochsteckfrisuren, der Schweiß und das Gewimmel in der Halle unter der mit «Mitternacht am Amazonas»-Deko beladenen Decke, die blendende Diskokugel.
    Dann endlich der letzte langsame Tanz der Nacht: Die tanzenden Paare flüstern miteinander. Jeremy schlingt unsicher den Arm um meine Taille. Ich schließe die Augen und lasse es zu.
    Seine Lippen berühren meine, und der Traum verändert sich: Jeremys Atem duftet holzig und nach Schnee, und seine Umarmung ist fester. Seine Lippen liegen auf meinen, und ich mag die Weichheit seiner Zunge, und ich öffne die Augen: Flynt küsst mich.
    Flynts Augen. Flynts Finger. Flynts Zunge.
    Ich will nicht, dass es aufhört.
    Ich verliere mich so in meinem Traum von ihm, von seinen warmen, rauen Händen, die meinen Rücken streicheln, dass ich es fast nicht bemerke, als ich bei meinem Spind ankomme: Die Schließfachtür. Mein Gesicht. Überall. Acht Augen.
    Acht offene Münder.
    Mein Spind ist bedeckt mit vergrößerten Fotokopien meines Schulfotos vom letzten Jahr. Des Fotos aus dem Jahrbuch. Acht davon kleben auf der Spindtür und bilden ein makabres Quadrat. Mein Gesicht auf den Fotos zerfließt, zerfressen von etwas sehr Hungrigem, bis es ganz verschwunden ist.
    Mit schwarzen Tintenbuchstaben, die wie eine Naht wirken, mit der meine Lippen verschlossen sind, hat jemand eine Warnung geschrieben: Hau ab, Schlampe.
    Es ist Säure. Ich kenne sie aus dem Chemieunterricht. Lackmuspapier. Schreibpapier. Tinte. Wie sie alles aufleckt, wie eine Flamme.
    Acht. Acht Quadrate. Acht Warnungen. Die Zahl wirbelt durch meinen Kopf, ich stolpere, die Halle scheint plötzlich zu kippen. Oder vielleicht kippt die ganze Welt? Ich versuche mich aufzurichten, mich auf einen Punkt zu konzentrieren: Passiert das alles hier wirklich?
    Ich starre auf die Tür meines Spinds, aber in meinem Kopf wirbelt es schon wieder. Es ist real.
    Der Türsteher. Das ist eine Warnung.
    Er weiß, wo ich zur Schule gehe. Er war hier. Er muss hier gewesen sein, vor ein paar Minuten. Was bedeutet, dass er mich womöglich immer noch beobachtet. Vielleicht hat er mich die ganze Zeit im Visier – er weiß sicher, dass ich oft allein bin und wie einfach es wäre, mich umzubringen. Ich wirbele herum. Leute gehen an mir vorbei. Einige flüstern. Einige lachen.
    Mein Gesicht – meine acht Gesichter – haben sich jetzt völlig aufgelöst. Papierfetzen schweben wie Locken von der Spindtür. Ich werfe mich auf sie, kratze sie ab, zerreiße, was übrig geblieben ist. Sechs Mal zerrissen. Noch einmal. Noch einmal. Ich versuche die Papierfetzen in meine Taschen zu stopfen, aber sie passen nicht alle hinein. Ich quetsche sie hinein, drücke sie tief in meine

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