Schmetterlingsjagd (German Edition)
Vorsprechen arrangieren können. Wär das okay für dich?»
«Ja», antworte ich sofort. Ich hatte die Bewerbung ganz vergessen, auch die Fragen, die ich nicht mehr stellen konnte.
«Gut. Vergiss nicht, einen undurchsichtigen Stringtanga mitzubringen. Außerdem hochhackige Schuhe und ein Kleid, in dem man tanzen kann, okay?»
«Okay.»
«Tschüs dann.»
Klick.
Ich sitze noch eine Weile so da und starre auf die Zeitanzeige auf dem Handy-Display. 11.45 Uhr. Die ersten fünf Unterrichtsstunden habe ich schon verpasst. Es bringt nichts, jetzt noch zur Schule zu gehen. Eine Mischung aus Angst und Aufregung durchströmt mich. Ich kann heute Abend kaum erwarten. Ich brauche endlich Antworten.
Jetzt, da Mario und der Türsteher nicht mehr in Frage kommen, erkenne ich, dass ich Bird finden muss. Irgendjemand muss es so eingerichtet haben, dass der Verdacht auf Vinnie fiel, und irgendjemand hat Mario umgebracht, damit er nicht reden konnte.
Mario, Sapphire, der Türsteher. Sie sind alle irgendwie miteinander verbunden – durch etwas, durch jemanden.
Es pocht in meinem Kopf, und ich lasse mich zurück in die Kissen fallen. Irgendetwas habe ich außer Acht gelassen, das weiß ich.
Irgendetwas Wichtiges, ein verstecktes Stückchen Information, das ich nicht fassen kann. Ein Schauder läuft über meinen Rücken, und ich setze mich wieder auf: Sapphires Tagebücher.
Sie vibriert um mich herum, in den Ohren, im Kopf: Such weiter.
5. Juni: Bird ist vielleicht der einzige Mensch, den ich noch habe, und er macht mich verrückt .
18. Juni: Bird hat die ganze Woche bei mir geschlafen. Ich bin zur Arbeit gegangen, nach Hause gekommen, und er lag noch immer genau so auf dem Sofa oder im Bett, wie ich ihn verlassen hatte. Ich frage ihn ständig, ob er darüber reden will, aber er schüttelt nur den Kopf und fängt an, mich zu küssen, bis ich die Sache vergesse. Ich glaube, er ist irgendwie manisch oder so. Aber den zweiten Teil mag ich, den mit dem Küssen. Es funktioniert .
Mit klopfendem Herzen blättere ich weiter.
11. Februar: Scheiße. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn, verdammt noch mal. Warum kann ich es nicht einfach aus mir herausziehen? Ich will, dass das weggeht. Er will mich quälen. Deshalb hat er tagelang nicht angerufen. Bei der Arbeit muss ich so tun, als ob alles in Ordnung wäre, weil kein Kunde einer Stripperin Trinkgeld gibt, die auf seinen Vierhundert-Dollar-Anzug und in den Whiskey Sour heult. Bird. Du bringst mich um .
Sie schreibt die ganze Zeit nur über ihn. Er war verantwortlich für ihre größten Freuden und ihr schlimmstes Leid – abgesehen vielleicht von ihrer Mutter, die nur ein Geist bleibt, der hie und da in den Einträgen auftaucht.
Bird. Natürlich.
Ich schließe das Tagebuch und schaue mir den staubig-roten Einband an. In die linke obere Ecke ist mit einem schwarzen Filzstift eine Feder gekritzelt.
Bird ist der Schlüssel zu allem, was ich noch nicht weiß. Er ist das fehlende Puzzleteilchen.
Ich werfe die Decke von mir, stehe auf und nehme Sapphires Bustier vom Stuhl und schlüpfe hinein. Ich spüre, wie es jeden Quadratzentimeter meines Körpers zusammenhält. Es wird mich beschützen – Sapphire wird mich beschützen – und ich werde bereit sein. Zu allem. Das muss ich auch, denn heute Nacht werde ich alles herausfinden.
Ich ziehe das Häkeltop, das ich beim ersten Mal im Tens getragen habe, über das Bustier und schlüpfe in den kurzen Rock. Ich habe keine anderen High Heels als die von Mom aus den Achtzigern, und einen undurchsichtigen Stringtanga habe ich schon gar nicht. Ich besitze überhaupt keinen String. Tragen alle normalen Mädchen Strings? Wenn ich normal wäre, hätte ich vermutlich auch einen.
Bevor ich gehe, berühre ich noch einmal Sapphires drei Fröschchen leicht am Kopf, jeden einzelnen. Ich taste nach dem Schmetterling in meiner Jackentasche und nach dem weichen Papierfetzen in meinem linken Schuh. Dann schalte ich das Licht ein und aus, sechs Mal.
Unten auf dem Küchentisch steht ein Glas Orangensaft, daneben liegt ein ungetoasteter Bagel, in Viertel geschnitten. Genau so mag ich es. Auf einem Zettel, der neben der Kaffeemaschine liegt, steht: Musste früh zur Arbeit. Wichtige Sitzung. Schönen Tag in der Schule. Dad.
Ich kippe den Orangensaft in den Ausguss und esse drei der vier Bagelstückchen auf dem Weg zur Bushaltestelle. Das letzte Viertel zerbrösele ich und verteile die Krümel hinter mir. Die Luft flattert schwarz. Die Vögel krächzen
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