Schmetterlingsjagd (German Edition)
weißen Türen zu meiner Linken auf.
Mein Magen sackt in meine Füße.
Eine Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, mit einer merkwürdigen, gummiartigen schwarzen Maske stürzt sich auf mich.
Bevor ich weglaufen kann, werde ich in den Raum hinter der Tür gezogen. Ich habe keine Zeit mehr zu tippen. Die Gestalt hat die Regeln gebrochen. Bitte. Bitte. Bitte. Ich wehre mich und versuche, meine Arme aus seinem Griff zu befreien … und ich muss, muss tippen. Nein – oh Gott, oh Gott – ich kann mich nicht rühren – der Griff ist zu fest. Stockdunkel. Hände zwingen mir die Arme auf den Rücken. Sie schmerzen. Ich versuche noch einmal, daran zu ziehen, tip tip tip, Banane zu klopfen. Der Drang durchfährt mich, er reißt an meiner Haut, an jeder einzelnen Zelle. Ich beginne zu zittern, zu weinen, versuche zu schreien, aber der Mann – es muss ein Mann sein, er ist so riesig und so brutal wie ein Mann – drückt mir grob die Hand auf den Mund. Seine Hand schmeckt nach Tabak.
Oh Gott. Oh nein. Mir ist übel, mein Magen revoltiert, hebt sich, sinkt in die Geleepfütze, in die sich meine Beine verwandelt haben.
Sein Arm legt sich um meine Kehle, zieht mich zu sich heran, er atmet mir ins Ohr. «Egal welches kleine Spiel du zu spielen glaubst», knurrt er, und ich versuche so viel Luft zu kriegen, wie es nur geht, «du lässt es jetzt lieber bleiben, sonst endest du so wie deine Freunde. Und glaub mir, wenn du glaubst, dass es schlimm war, was wir diesem neugierigen Freak Mario angetan haben …»
Ich kann nicht atmen. Er wird mich umbringen. Ich werde hier sterben, in diesem kleinen Raum, und niemand wird mich je finden. Ich sehe das Gesicht meiner Mutter, wie sie mich früher morgens mit ganz zarten Küssen auf die Wangen geweckt hat. Erst auf die linke, dann auf die rechte. Ich habe sie immer gebeten, mich noch einmal zu küssen: erst auf die rechte, dann auf die linke. Ausgeglichen. Sicher. Ich spüre, wie sie sich über mich beugt, rieche ihren Lavendelduft.
Er bläst mir seinen heißen Zigarettenatem ins Ohr: «Das ist die letzte Warnung. Eine weitere gibt es nicht.» Dann packt er meine Arme noch fester. Irgendwer stöhnt. Das muss wohl ich sein. «Jetzt lasse ich dich laufen. Bei drei», sagt er, wie der Clown auf einem Kindergeburtstag, der mit den Gästen Verstecken auf dem Friedhof spielt. «Fertig?» Er zerrt an mir, als wäre ich aus Gummi.
«Eins.» Er reißt an meinen Armen, dass sie fast aus den Gelenken springen.
«Zwei.» Gräbt seine Nägel in meine Haut.
«DREI.»
Die Tür fliegt auf. Ich renne, alles tut weh. Ich achte nicht darauf und stürze zum Ausgang am Ende des Gangs. Ich renne – durch das blasse Licht der nebelverhangenen Sonne. Ihre Strahlen dringen zwischen den Gebäuden und den Ästen toter Bäume hindurch.
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Kapitel 20
Meine blechern keuchenden Atemzüge durchschneiden die kalte Luft. Die Knie tun mir weh. Aber ich kann einfach nicht aufhören zu rennen. Ich spüre Blicke in meinem Rücken, überall. Augen, die über meine Haut kratzen, Wind, der sich um meinen Hals legt, immer enger und enger und enger.
Ein Auto rast mit einem kreischenden Wiiiii um die Ecke, und ich springe zurück, direkt hinter einen Busch auf den Rasen eines Privatgrundstücks. Ich versuche, tip tip tip, Banane zu klopfen, aber meine Füße fühlen sich an wie Blei, und mein Mund funktioniert nicht. Ich beiße mir neun Mal auf die Zunge. Drücke mit zitternder Hand Sapphires Schmetterling, sechs Mal. Es ist merkwürdig, dass man sich fühlen kann, als sinke und schwebe man gleichzeitig, dass nicht einmal der eigene Körper im Raum irgendeinen Sinn ergibt.
Das ist die letzte Warnung. Eine weitere gibt es nicht. Die Worte hallen in meinem Kopf wider. Mein Magen will einfach keine Ruhe geben, ich habe das Gefühl, als müsste ich mich übergeben. Aber es wird nichts kommen.
Ich kann nicht nach Hause. Ich kann nie mehr nach Hause – da kann er mich zu leicht finden. In meiner Tasche taste ich nach dem Schmetterling und finde etwas anderes, ein kleines rechteckiges Kärtchen: Lieutenant Lief M. Flack; Morddezernat. Auf der Rückseite steht die Adresse der Polizeistation.
Ich drehe mich auf dem Absatz herum und laufe zum Bus, der in die Innenstadt fährt. Der Schmetterling wird ganz warm in meiner Faust, und ich weiß, dass das Sapphire ist, die mir sagt, dass sie bei mir ist, die mir sagt: Es gibt keinen anderen Weg.
***
«Lieutenant Flack ist heute nicht im Dienst.»
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