Schmetterlingsscherben
du?»
«Einmal.»
Ich schwieg und wartete darauf, dass er von alleine weiter sprach. Ich wollte ihn nicht drängen und er brauchte offenbar etwas Zeit, um sich zu sammeln und die richtigen Worte zu suchen. «Das war vor fast drei Jahren, ich war gerade sechzehn. Als mein Vater starb, war ich fast wahnsinnig vor Hass und Trauer und ich habe so lange nach dem Mann gesucht, der ihn getötet hat, bis ich ihn letztlich auch gefunden habe. Ich kann mich ehrlich gesagt kaum noch daran erinnern, was genau passiert ist. Ich war außer mir vor Wut, ich konnte nicht mehr klar denken. Für einen winzigen Moment hat es mir tatsächlich Genugtuung verschafft, aber es war nur eine Sekunde im Vergleich zu der Leere und der Schuld, die mich danach fast zerrissen hätten. Ich trage bis heute diese Last mit mir und ich werde sie wahrscheinlich nie wieder loswerden. Ich sehe sein Gesicht ständig in meinen Träumen und ich frage mich immer, ob er wohl auch Familie gehabt hat. Ob ich einem anderen Jungen seines Vaters beraubt habe und dieser jetzt genauso einen Hass gegen mich hegt, wie ich zuvor gegen seinen Vater.» Lennard starrte an die Wand gegenüber. «Es ist nichts, worauf ich stolz bin und wenn ich könnte, würde ich es sofort rückgängig machen. Aber ich kann es nicht, also werde ich wohl oder übel mit dieser Schuld leben müssen und alles dafür tun, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt.»
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also schwieg ich einfach und beobachtete seine Gesichtszüge. Erst eine Weile später sah er zu mir herab. «Und? Denkst du jetzt schlecht von mir?», fragte er und das leichte Beben in seiner Stimme verriet seine Unsicherheit. Ich lächelte flüchtig und schüttelte den Kopf. «Nein. Wenn ich jemanden für den Tod meiner Mutter verantwortlich hätte machen können, wäre es mir nicht anders gegangen. Der Schmerz und der Verlust lassen uns manchmal vergessen, was richtig und falsch ist. Das heißt aber nicht, dass du ein schlechter Mensch bist.»
«Guck dir meine Familie an, da wäre es nur natürlich, wenn aus mir auch ein schlechter Mensch wird», erwiderte er. Ich musste loslachen. «Du bist nicht wie deine Familie, Lennard. Du warst von Anfang an gegen diesen Krieg und du hast mich gerettet, während mich jeder andere deiner Familie sofort ausgeliefert hätte, selbst Alex. Und du hast mich noch nicht einmal darum gebeten, freiwillig für sie zu kämpfen.»
Er lachte freudlos. «Das klingt als wäre ich ein Held!»
«Für mich bist du das auch», grinste ich. Lennard verzog das Gesicht. «Ich fühle mich aber nicht so.»
«Wieso werde ich eigentlich so unverhohlen dafür angepöbelt, wenn ich spreche, obwohl ihr schlafen wollt, und dann palavert ihr selber unaufhörlich?», murrte Mercutio aus seiner Ecke.
Grinsend drückte ich Blaze einen Kuss auf die Wange und kuschelte mich an ihn, ehe ich die Augen schloss. Ich hörte seinen Herzschlag und spürte das beständige Auf- und Abheben seines Brustkorbs bei jedem Atemzug. Kein Gefühl der Welt hätte mich mehr beruhigen können.
Kapitel 22
Er grinste gut gelaunt, als er sich zu mir in die Sonne setzte. Die Pausen waren das Beste am ganzen Schultag, weil wir uns in den Stunden dazwischen nie sehen konnten.
«Wie war Mathe bei dir?», fragte er und holte seine Brotdose aus seinem Rucksack. Ich zuckte beiläufig mit den Schultern. «Ganz gut, aber furchtbar langweilig.»
«Frag mich mal.» Er verdrehte die Augen und hielt mir eines seiner Sandwiches entgegen. Seine Nanny machte die besten Pausenbrote der Welt. Dankbar griff ich danach, als jemand Lennard mit einem Stock das Brot aus der Hand schlug.
«Wenn du das isst, wirst du noch dicker, Louise», sagte Alissa und grinste gehässig. Sie stand jetzt so vor uns, dass sie die Sonne versperrte.
«Hey, das war mein Brot!», beschwerte sich Lennard verärgert.
«Halt du dich da raus, Brillenschlange.» Alissa funkelte ihn zornig an. «Ihr passt echt richtig gut zusammen, ihr seid beide total doof.» Sie lachte sich kringelig, zertrat das Sandwich am Boden mit dem Fuß zu Brei und lief dann zurück zu ihren Freunden, die ebenfalls lachten.
«Ich hasse Alissa», murrte Lennard und ich lehnte mich seufzend an ihn. «Sie ist neidisch, weißt du? Weil sie niemanden hat, der sie wirklich mag.»
Ich hatte nicht das Gefühl, wirklich lange geschlafen zu haben, als ich wach wurde. Es zog kalt, und als ich mich aufrichtete, konnte ich Lennard nirgendwo im Zimmer entdecken.
Weitere Kostenlose Bücher