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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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ausgiebig erörtert. Jedenfalls gibt er viel Geld für Morel aus und kann, seit er weiß, daß er Männer begehrt, keine freundschaftlichen Gefühle mehr für Marcel empfinden. Marcel hat Mühe, seinen Tränen zu gebieten, wenn er an den Moment von Saint-Loups einem Liftboy zuliebe erfolgter Konversion denkt, der ihm in Balbec entgangen ist.
    Unklares Inventar:
    – Arnault, Ponceaurot.
    Verlorene Praxis:
    – Als junger Leser, » der wenig auf dem laufenden ist «, den Irrtum begehen zu glauben, daß der Baron und die Baronin Forcheville als Verwandte der Schwiegereltern des Marquis de Saint-Loup, das heißt von der Seite der Guermantes her, auf der Traueranzeige von Mademoiselle d’Oloron vertreten sein müßten.
    – Den als angenehm empfundenen Vorzug besitzen, Whist zu spielen.
    – Als Bürgermeister ein Radikaler sein und den Pfarrer nicht grüßen.
    – Nachdem man jemanden angesehen hat, noch eine Weile mit verlorenem Blick dastehen, » wie jemand, der, bevor er sich wieder an eine Kartenpartie oder zu einem Abendessen in die Stadt begibt, an eine jener sehr weiten Reisen denkt, von denen er annimmt, daß er sie niemals machen wird, nach denen er aber gleichwohl einen Augenblick Sehnsucht verspürt «.
    – In eine Periode endgültiger Keuschheit hinüberwallen.

7. Buch
Die wiedergefundene Zeit
    161 . Fr, 5.1., Berlin
    Seit ein paar Jahren schon konnte ich meinen teuren Steuerberater nicht wechseln, weil ich fürchtete, daß die mit meinem Fall betraute Angestellte dann enttäuscht wäre. Jetzt hat sie selbst gekündigt, vielleicht war ich ihr lästig. Nicht mal meine Sachbearbeiterinnen halten es lange aus mit mir, und das, obwohl sie nur einmal im Jahr Post von mir bekommen. Vielleicht habe ich ihnen nicht genug verdient? Ein finsterer Gedanke, den meine Mutter aus ihrer Lebenserfahrung heraus immer wieder einmal äußert: »Frauen wollen Sicherheit«. Ein Mann müsse Geld mitbringen und unkündbar sein, dann habe er die Wahl.
    Meine Mutter hat aber keine Zeit, sich meinem Liebeskummer zu widmen, weil sie gerade »Sturm der Liebe« gucken und mein Vater wegen seiner Ohren so laut gedreht hat. Später tröstet sie mich, Kathrin sei todunglücklich aus Amerika zurückgekehrt, wo der Versuch, den langjährigen Freund zu heiraten, gescheitert sei, und prompt habe sie im Fahrstuhl den Mann ihres Lebens getroffen. Wer weiß, was ich verpasse, weil ich, um schlank zu bleiben, immer die Treppen nehme? Während die Faulenzer dieser Welt die Schwäche der enttäuschten und auf Fahrstühle angewiesenen Frauen ausnutzen!
    Meine Mutter ist froh, daß sie ihre großen Lieben nicht bekommen hat, bei dem einen wäre sie schon seit dreißig Jahren Witwe, die anderen sind inzwischen glatzköpfig oder aufgeschwemmt. Mit einem hätte sie elf Jahre nach Afrika gemußt, und ich wäre jetzt schwarz. Aber immerhin hat sie schon mit siebenundzwanzig geheiratet. Das solle mich aber nicht beunruhigen, ihr Vater war vierundfünfzig bei der Hochzeit. Allerdings hat von seinen sechs Brüdern außer ihm nur noch Onkel Ernst geheiratet, mit dreiundfünfzig. Fritz ist gefallen. Franz, Emil und Alfred sind Junggesellen geblieben, ihre Schwester Lieschen hat ihnen in Insterburg den Haushalt geführt. Erst im Alter haben die Brüder zugegeben, daß sie immer die Bewerber von diesem hübschen Mädchen ferngehalten haben, weil sie nicht auf sie verzichten wollten. Es habe Lieschen aber gefreut zu erfahren, daß es Bewerber um sie gegeben habe.
    Franz hat meiner Mutter als hochbetagter Mann aus dem Westen an ihre Arbeitsstelle geschrieben und sich beschwert, daß er nie heiraten konnte, weil ihr Vater Albert ihm als ältester Bruder die Tanzstunde nicht bezahlt habe. Außerdem hat er ihm keinen Koffer geliehen, weshalb er nicht verreisen konnte, um sich woanders eine Frau zu suchen. Den Brief hat mein Vater lesen müssen, meine Mutter liest unangenehme Post nicht, sie hat noch Briefe, die seit dreißig Jahren ungeöffnet sind, weil es sie so quält, daß sie sie noch nicht beantwortet hat.
    Die wiedergefundene Zeit, S. 5–25
    Wieder ist er in Combray, aber er vermißt den Reiz, obwohl er dieselben Spaziergänge unternimmt wie als Kind. » Ich werde zum Schreiben niemals befähigt sein «, kein guter Satz für die erste Seite eines Buchs, würde man heute sagen. Wo ist » das unmittelbare, köstliche, alles erfassende Aufzucken der Erinnerung «, fragt er sich.
    Er wohnt bei Gilberte, und sie rekapitulieren die Wendepunkte ihrer

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