Schmidt Liest Proust
willig lauschen.
– Sich an gewisse Kalbsschnitzel von Jean d’Heurs erinnert fühlen.
– Eine Althaea nicht von einer Kornrade unterscheiden können.
– Auf dem Schlachtfeld jederzeit Lakritzpastillen in der Hand haben, um seine Leberschmerzen zu beschwichtigen.
– Lust auf eine Flasche Apfelwein bekommen, wie man ihn in der etwas gewöhnlichen Atmosphäre einer normannischen Bauernwirtschaft trinkt.
– Als Schriftsteller im intimsten Leben einer Frau eine Rolle spielen.
163 . So, 7.1., Berlin
Ich bin der, neben den sich die Frauen nachts auf dem leeren Bahnsteig setzen, weil sie von ihm nichts befürchten.
Ich bin der, der die Vokabeln gelernt hat, auch die nicht zum Lehrstoff gehörenden mit dem Sternchen.
Ich bin der, dem alle Reißverschlüsse reißen.
Ich bin der, der dem Paketboten auf der Treppe entgegenkommt.
Ich bin der, der sagt »stimmt so«.
Ich bin der, der auch noch auf dem Foto ist, und von dem dir der Name nicht mehr einfällt.
Ich bin der, der deinen Blick bemerkt hat, als der große, stattliche Mann hereinkam und sich den Schnee seiner letzten Reise von den breiten Schultern klopfte.
Ich bin der, dem du die Sicht verdeckst, wenn du im Kino deinen Freund küßt.
Ich bin der, der seinen Müll in der Hand behält, bis er einen Papierkorb findet.
Ich bin der, bei dem du dich nach zwanzig Jahren fragst, warum er dir nie aufgefallen ist.
Ich bin der, der bei »Cinema paradiso« weinen muß.
Ich bin der, der sich beim Kondomaufziehen immer so unter Druck fühlt, wie ein unter Beschuß stehender Aufständischer, dem nur Sekunden bleiben, um schneller als sein Gegner das Magazin seiner Maschinenpistole zu wechseln.
Ich bin der, bei dem man denkt, es geht ihm gut.
Ich bin die Nummer Drei im deutschen Tor.
Ich bin der, der an Aussichtspunkten immer pinkeln muß.
Ich bin der, den man fragt, ob er mal rückt.
Ich bin der, der jedesmal nachdenkt, ob es »tod« oder »tot« heißen muß.
Ich bin der, der sich fragt, ob man im Café ein zweites Mal »Tschüß« zur Kellnerin sagen soll, wenn man nach dem Bezahlen noch einmal aufs Klo gegangen ist.
Ich bin der, der gerne Sprayer wäre, sich aber für kein Alias entscheiden könnte.
Ich bin der, der sich fragt, warum nicht alle sind wie er.
Ich bin der, der nie einen Drachen hatte, der geflogen ist.
Ich bin der, der das Radio leiser drehen würde, wenn er beim Radio anrufen würde.
Ich bin der, der die Stelle kennt, wo in der Samariterstraße früher eine grüne Wasserpumpe gestanden hat.
Ich bin der, der erst eine Tochter hatte und dann Sex.
Ich bin der, der sich, wenn er dich kennenlernen und mit zu sich nehmen würde, nicht die Mühe machen würde, sein Auto einzuparken, sondern es, ohne sich noch einmal danach umzudrehen, in den Abgrund rollen ließe um mit dir fortzugehen.
Ich bin der, dem es die Lust am Leben nimmt, wenn er merkt, daß er sein T-Shirt am Morgen aus Versehen falschrum angezogen hat.
Ich bin der, der bei Prüfungen so aufgeregt ist, daß er nicht mal seinen Vaterschaftstest bestehen würde.
Ich bin der, der daran, daß sein Duschkopf nicht am Halter hängt, merkt, daß eine Frau in der Wohnung war.
Ich bin der, der Melonen erfinden möchte, die man erst zu Hause mit Wasser füllt.
Ich bin der, der so nostalgisch ist, daß er sogar seine Obstfliegen vermißt, wenn sie nicht mehr da sind.
Ich bin der, der sich fragt, ob Kinder so klein sind, damit die Sachen nicht kaputtgehen, die sie immer fallenlassen.
Ich bin der, dessen Freundinnen immer eine verstopfte Nase haben.
Ich bin der, der im Vorbeigehen an einem Blatt zupft, und dann fällt der Baum um.
Ich bin der, dem es völlig gereicht hätte, wenn die Kamera in diesem Film statt dessen einfach nur zwei Stunden Penélope Cruz gezeigt hätte.
Ich bin der, der überlegt, ob er noch ein Kind machen soll, weil noch eine halbe Packung Windeln übrig ist.
Ich bin der, der Dinge sammelt, die die Form von dem haben, was sie enthalten.
Ich bin der, der es genauso unromantisch findet, vor dem Sex das Handy auszuschalten, wie es nicht zu tun.
Ich bin der, der sich fragt, ob er auf den einen Cent Rückgeld warten soll, wenn das Brot 2,99 gekostet hat, oder ob es arrogant wirken würde, darauf zu verzichten.
Ich bin der, dessen Kuß auf deinen Lippen landete wie die Rettungskapsel eines Raumschiffs in Kasachstan.
Ich bin der, von dem du dich immer fragst, warum es ihn nicht gibt.
Die wiedergefundene Zeit, S. 45–65
Eine der seltenen zeitlichen
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