Schmidt Liest Proust
wiedergefundene Zeit, S. 25–45
Weil er Gilberte ihren Balzac nicht wegnehmen will, borgt er sich von ihr einen Band der Tagebücher der Brüder Goncourt, in dem er zum Einschlafen an seinem letzten Abend bei Gilberte lesen will. Über der Lektüre scheint ihm seine » fehlende Disposition zum Schriftstellerberuf « weniger bedauerlich. (Immerhin schiebt er ja auch ein brillantes, zehnseitiges Goncourt-Pastiche ein, genau den Text, den er noch gelesen habe, bis seine Augen zugefallen seien, und den man ohne eine Disposition zum Schriftstellerberuf wohl kaum verfassen könnte.)
In diesem Text singt vermeintlich einer der Goncourts das Hohelied des Salons der Madame Verdurin, der darin keineswegs mehr so lächerlich erscheint wie bei Marcel, sondern als Gesamtkunstwerk aus Mobiliar, Speisen und Konversation. Der Bericht ist überaus detailliert und zeugt von der Beobachtungsgabe, die Marcel sich immer abgesprochen hat. Er hat ja denselben Salon ausgiebig besucht und für belanglos gehalten. Was soll man von der » trügerischen Magie der Literatur « halten, wenn sie den Salon nun als etwas so Erlesenes darstellt? Spielt es eine Rolle, ob das Original ganz anders war?
Vielleicht sei seine Unfähigkeit zu sehen und zu hören ja doch nicht so umfassend. Was ihn sofort interessiere, sei » das gemeinsame Element zwischen einem Wesen und einem anderen «. Nicht was gesagt wird, sondern die Art, wie es geäußert wird. Die psychologischen Gesetze im Liniensystem, das er zwischen den Gästen zeichnet. Außerdem ist er lediglich » unfähig, selber etwas zu sehen, wonach nicht durch meine Lektüre das Verlangen in mir wachgerufen wäre und wovon ich mir nicht im voraus eine Skizze angefertigt hätte «. So ist es immer beim Reisen, man muß von den Orten schon geträumt haben, und auch der Tag gewinnt an Reiz, wenn man gewohnt ist, alles aufzuschreiben. Aber wie weit ist der Horizont der Dinge, die einen im Leben interessieren können? Kommen alle Interessen aus einem selbst und müssen sie mit der eigenen Herkunft in Beziehung stehen (wird mich Asien jemals interessieren)? Wie bezeichnet man die Momente im Leben, in denen man sich aus seinem Kreis löst und zunächst nicht viel empfindet, aber das Fundament für spätere Nostalgien legt?
Man kann also schließen, daß man den Wert der Lektüre geringer veranschlagen muß, weil die Wirklichkeit ganz anders aussieht, oder aber, daß der Wert des Lebens durch die Lektüre steigt, weil einem erst Bücher die Augen öffnen.
Für Marcel stellt sich auch das Problem, Menschen zu schildern, die mehr als ein paar Anekdoten verdienen, die einem aber nicht wie bekannte Künstler ihre Werke als Hilfsmittel geben, sondern die diese Werke lediglich inspiriert haben. Nicht der Geistreichste oder Belesenste wird einmal ein Bergotte, » sondern derjenige, der sich selbst zum Spiegel zu machen und daraufhin sein Leben, wäre es selbst ganz mittelmäßig, zu reflektieren versteht «. Es geht also nicht darum, das Erlesene und Exotische zu porträtieren, sondern etwas verhältnismäßig Bescheidenes, das gerade dadurch herausstechen könnte.
Unklares Inventar:
– Bilder von Guardis, Miramionen, Frottis-Vignetten von Gabriel de Saint-Aubin, Teller aus der Yung-chêng-Epoche mit kapuzinerfarbenen Tönungen am Rande, » Sèvres-Teller mit der feinen Guilloche-Arbeit der weißen, goldliniierten Gitterung, die manchmal auf dem cremefarben ausgesparten Grund des hauchzarten Porzellans tändelnd das Relief eines goldenen Bandes zusammenhält «, die Dubarry, ein außergewöhnlicher Léoville, eine Ch’ing-Hon-Platte, ein Duft à la Lawrence, eine Bronzeziselierung von Gouthières, Nymphenburger Porzellan
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– Hinter der Animiertheit seiner scheinbar angeregten Konversation vor den anderen eine völlige geistige Erstarrung verbergen.
Verlorene Praxis:
– Jemanden in Paris durch einen Nimbus der Verderbtheit blenden.
– Eine wissende Miene annehmen, wenn in einem Gespräch die Rede auf Tobolsk kommt.
– Zornigen Unmut über die gegen einen gerichtete Verschwörung der Universität empfinden, wenn sie in Gestalt eines Professors ihren feindseligen Widerstand gewollten Schweigens sogar in das liebenswürdig gastliche Haus hineinträgt, in dem man als Autor gefeiert wird.
– Als Liebhaber solcher Dinge bei einem deliziösen Mahl mit angenehm geschmeichelter Aufmerksamkeit den künstlerischen Insinuationen eines Porzellanmalers in seinen Bildungen
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