Schmidt Liest Proust
mit stumpfwinklig gespreizten Füßen.
»The Science of Sleep«, weil sie damals nicht mit ins Kino gekommen ist.
Dönerbuden und Ayran, weil sie gleich am Anfang eine Woche in der Türkei war und keine Milchprodukte ißt.
Wollsachen, weil sie sich einen Beutel für ihren iPod gestrickt hat.
Thomas Doll, weil ihr seine blauen Augen gefielen.
Die neue Moschee in Pankow, weil auf der Orientierungskarte in der Zeitung der Name ihrer alten Straße auftauchte, die ich mir mit ihr noch ansehen wollte.
Vegetarisches Essen, weil sie kein Fleisch ißt.
Sportwagen, weil sie ein Porsche-Schlüsselband um den Hals trug.
Der Wedding, weil sie der erste Mensch war, den ich dort kannte.
Café Balzac, weil wir da das einzige Mal zusammen Kaffee getrunken haben.
Dieser aufdringliche Sportreporter, weil er ihr nach einem Länderspiel eine SMS schrieb, was angeblich gar nichts zu sagen hatte.
Keksdosen, weil sie erzählt hat, wie sie die als Kind mit ihren Fingern nicht aufbekam.
»Keane«, weil sie, ohne daß ich es wußte, zum Konzert gegangen war. Ich kannte die Band gar nicht.
Avocados, weil sie mir beigebracht hat, daß die neben Äpfeln schneller reifen.
»Nußknacker«, weil sie in dem Ballett mal eine Maus war.
»Baywatch«, weil sie einmal mit David Hasselhoff auf der Bühne gestanden und Cancan getanzt hat.
Campari, weil wir den im Sommer auf dem Balkon getrunken haben.
Die Entflohene, S. 297–307
Außerdem kommt, was man schon geahnt hatte: Albertine ist keineswegs lebendig. Die Depesche stammte in Wirklichkeit von Gilberte und enthielt die Ankündigung ihrer Vermählung mit Saint-Loup. Ihre Mädchenschrift mit Bögen, Arabesken und verirrten I-Punkten war falsch interpretiert worden, und schon war aus »Gilberte« »Albertine« geworden. Außerdem liest man ja oft, was man lesen will. Ich erinnere mich an eine Nacht, in der ich eine SMS erhalten gehabt zu haben meinte, sie aber wie ein Weihnachtspaket nicht gleich öffnen wollte und wieder schlafen ging. Am nächsten Morgen war der kleine Briefumschlag vom Display verschwunden, den ich nachts zu sehen geglaubt hatte. Ich bin in dieser Zeit oft nachts aufgestanden, um nach SMS zu sehen. Warum hatte ich diese eine SMS nicht gleich gelesen? Hatte ich mich nicht ein wenig zu sicher gefühlt und beim Einschlafen schon wieder Zweifel verdrängt, ob ich nicht doch lieber frei wäre?
Nun wird also Gilberte, die reiche Tochter eines Juden und einer Kokotte, eine der angesehensten Partien heiraten, in deren Stammbaum sich französische Könige tummeln, Stoff für lange Erörterungen. Andererseits heiratet die Tochter Jupiens, die inzwischen aus Barmherzigkeit von Charlus adoptiert worden ist, einen Cambremer. Marcels Mutter versucht » sich gleichzeitig so gut wie möglich vorzustellen, was meine Großmutter beim Erfahren dieser Nachrichten empfunden hätte, und zu gleicher Zeit für unmöglich zu halten, daß wir es mit unseren um so viel weniger erhabenen Geistern je erraten könnten «.
Marcel überfällt bei diesen Nachrichten eine abgrundtiefe Traurigkeit » trübe wie ein Umzugstag «. Allerdings ist das Glück der anderen relativ, denn von Saint-Loup heißt es plötzlich aus dem Munde einer Puffmutter, er sei auch » so «, was ihn nicht daran hindern würde, ein guter Ehemann zu sein. Und die Nichte Jupiens wird schon am Tag der kirchlichen Trauung von einem gastrischen Fieber befallen, schleppt sich mühsam zum Traualtar und stirbt wenige Wochen später.
Verlorene Praxis:
– Unaufhörlich mit jungen Leuten im Freudenhaus Champagner trinken, um hinreichend fettleibig zu werden, damit man, falls Krieg ausbricht, nicht eingezogen wird.
– Sich ständig in Marienbad aufhalten, um sein Gesicht seiner schlanken Taille zum Opfer zu bringen.
– Das gelenkige Äußere eines Kavallerieoffiziers erlangen, um beim Aufsuchen gewisser Häuser unbemerkt hineingleiten zu können.
– Zum Diner mit Federn auf dem Kopf erscheinen.
– Sich Dank des Vermögens seiner Frau alles leisten können, was man zu seinem Behagen braucht.
160 . Do, 4.1., Berlin
Morgens weckt sie mich, indem sie mir glucksend ihren Finger vor die Nase hält, den sie dem Geruch nach gerade im Po hatte. Aber im Grunde mache ich ja beim Schreiben auch nichts anderes mit den Lesern.
Die Eltern lange nicht im Schlafanzug gesehen. Soll man sie überreden, doch wieder nach Berlin zu ziehen? Meine Mutter hat aber Angst vor dem holprigen Berliner Gehwegpflaster.
Der Sohn ihrer ältesten Cousine
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