Schmidt Liest Proust
zu Hause! Dafür kennen sie Bruce Lee nicht … Es gibt eben keinen Bildungskanon mehr. Niemand ist verpflichtet, etwas zu wissen, aber jeder ist verpflichtet, sein Unwissen zu beseitigen.
Es ist eine stolze Lebensleistung, die »Recherche« geschafft zu haben, nicht weil sie so lang ist, sondern weil man, um sie zu lesen, seine Seele stimmen muß wie ein Instrument. Man könnte sagen, daß man nicht sterben sollte, ohne Proust gelesen zu haben. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren.
Berlin, September 2008
1. Buch
In Swanns Welt
1. Di, 18.7.06, Berlin
Lange Zeit bin ich früh laufen gegangen. Die Sonne scheint, es werden 35 Grad. Ich wiege 75 Kilo und war schon ziemlich lange nicht mehr beim Friseur. Ich würde gerne verreisen, kann mich aber für kein Ziel entscheiden. Außerdem ist am Donnerstag meine Latein-Klausur, auf die ich mich freue, weil ich bei der Gelegenheit mal unter Menschen komme. Wir werden uns zwar nicht unterhalten, aber ich werde die jungen Leute leise atmen hören und mich fühlen, als seien wir eine Familie. Jedenfalls ist der Sommer schon halb vorbei und man hat noch nichts erlebt, was sich später mit ihm verbinden wird, höchstens meine den ganzen Tag zugezogenen IKEA-Vorhänge, die ein Fehlkauf waren, weil das Grau mir nicht gefällt und weil sie auf dem mitgelieferten Draht nicht richtig gleiten. Man kann sie nicht optimistisch auf- oder, befriedigt von den am Tag erbrachten Leistungen, zuziehen, man zerrt nur immer unwürdig daran herum.
Ideale Voraussetzungen, um endlich »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« anzufangen, vorher kann man ja gar nicht mitreden, danach allerdings auch nicht, weil man keinen mehr findet, der einen noch versteht. Man wird dann bei jedem Thema sagen: »Hast du nicht Proust gelesen?« Man hat ja schon manche dicke Bücher geschafft, aber Prousts Roman hat sieben Bände mit mehr als 3 900 Seiten. Wenn ich täglich zwanzig Seiten lese, bin ich in hundertachtzig Tagen durch, also Mitte Januar. Und vielleicht wird am Ende gar nicht verraten, wer der Mörder war. Sind die Stellen, die ich nicht anstreiche, eigentlich überflüssig? Oder braucht man sie als Hintergrund für die bemerkenswerten Sätze? Eigentlich will ich ja nur endlich Becketts Proust-Essay verstehen, an dem ich immer gescheitert bin. Aber selbst, wenn es nicht reicht, Proust zu lesen, um Becketts Proust-Essay zu verstehen, wird man zumindest wissen, was Proust geschrieben hat, sicher das Minimalziel einer Proust-Lektüre.
Ich bin leider zu faul, den Text im Original zu lesen, das würde mindestens drei Jahre dauern. Welche Übersetzung liest man also, die alte von Eva Rechel-Mertens oder eine neue? Man könnte natürlich auch eine eigene machen. Ich habe vor ungefähr fünfzehn Jahren mal einen Zeitungsartikel ausgeschnitten, in dem eine neuere Übersetzung mit der alten verglichen wurde. Aber jetzt, wo ich ihn brauche, finde ich ihn natürlich nicht mehr. Meine Wohnung funktioniert nach dem Prinzip der mémoire involontaire, sie erlaubt mir nur zufällige Wiederentdeckungen.
Die pastellfarbenen Bände der DDR-Ausgabe (Rütten & Loening, Berlin 1974) standen, seit ich denken kann, im Bücherschrank meiner Eltern. Lange dachte ich dabei an einen sowjetischen Kinderfilm aus dem Ferienprogramm, in dem den Menschen die Zeit gestohlen wird. Wie immer ein verstörendes Werk mit unangenehm aufdringlichen Fabelwesen, die sich aus dem Wald in die sozialistische Wirklichkeit vorwagen. Jedenfalls dachte ich, die Bände im Bücherschrank meiner Eltern seien die Vorlage zum Film und wunderte mich, daß es so viele waren. Auch ohne sie gelesen zu haben, sind viele Bücher Teil meines Lebens, weil ich mich aus der Kindheit an die Einbände erinnere. »Bildnis einer Dame« stand immer in Augenhöhe und klang interessant. »Der Idiot«, wie konnte ein Buch so heißen? Man ahnt ja gar nicht, was Kinder alles mitbekommen. Ich hatte nie das Bedürfnis, die Bücher meiner Eltern zu lesen, aber sie gehörten zu unserer Wohnung wie die durchgesessenen Stühle.
In Swanns Welt, S. 1–21
Der Erzähler beschreibt, wie man sich fühlt, wenn man aufwacht, nicht weiß, wo man ist, und das Gehirn zu rekonstruieren versucht, wo man sich befindet und dabei verschiedene Zimmer durchgeht, in denen man einmal gewohnt hat. Am Ende ist er » überzeugt von der Feindseligkeit der violetten Vorhänge und der anmaßenden Gleichgültigkeit der Pendüle, die ganz laut vor sich hin schwatzte, als sei ich gar
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