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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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man nur in einem Buch Gerechtigkeit widerfahren lassen kann! » Wie glücklich würde der sein, dachte ich, der ein solches Buch zu schreiben vermöchte, doch welche Arbeit liegt auch vor ihm. « Eine Arbeit, die alle erdenklichen Kulturleistungen des Abendlandes zusammenführt und erforderlich macht, man muß es nämlich » unter unaufhörlicher Umgruppierung der Kräfte wie eine Offensive vorbereiten « (als Feldherr), » es ertragen wie die Qual der Ermüdung « (als Märtyrer), es » wie eine Ordensregel auf sich nehmen « (als Asket), es » wie eine Kirche erbauen « (als Architekt), » ihm folgen wie einer ärztlichen Weisung « (als Patient), » es überwinden wie ein Hindernis « (als Entdecker), » es erobern wie eine Freundschaft « (als Werbender), » es pflegen wie ein Kind « (als Mutter), » es schaffen wie eine Welt « (als Künstler/Demiurg). Und dabei muß man auch noch alles andeuten, was von Menschen nicht erkannt werden kann.
    Wie soll das gehen? Unter der Obhut der zwar schon fast blinden, aber mit einer Intuition für Marcels Werk ausgestatteten Françoise, vielleicht sogar genau in der Art, wie diese » ein Kleid entstehen läßt «? So würde er das Buch zusammenflicken und ausbessern. Aber » war es wirklich noch Zeit und war ich selbst noch imstande dazu? « Man darf ja nicht vergessen, daß der Autor zwar an der Schreibmaschine arbeitet, aber als Gefäß für seinen Geist nur einen vergänglichen Organismus besitzt: » Man mußte in der Tat davon ausgehen, daß ich einen Körper hatte. « Traurige Tatsache. » Einen Körper zu haben aber ist die große Bedrohung für den Geist. « Man fühlt sich in seinem Körper nicht mehr wohl, wenn man das Werk, das man schaffen will, schon vor sich sieht und fürchten muß, jederzeit auf den Champs-Elysées von einem Ast erschlagen zu werden oder beim Durchschwimmen des Atlantiks zu ertrinken. Als ich heute mit dem Fahrrad auf die Torstraße bog und ein Laster mit Anhänger scharf an mir vorbeiraste, war es mein Proust-Kommentar, für den ich erschrak, weil er so kurz vor dem Ziel unvollendet geblieben wäre: » Daß ich mich als Träger eines Werkes fühlte, machte jetzt einen Unfall, bei dem ich den Tod finden könnte, fürchtenswerter für mich, ja […] geradezu absurd. « Deshalb hat Heiner Müller auf Flugreisen immer unfertige Manuskripte mitgenommen, weil ihm dann ein Absturz unwahrscheinlicher erschien. Man hat vielleicht die Blindheit des Schicksals noch nicht verstanden, wenn man glaubt, Werke würden von ihm verschont. Wir denken das, weil wir nur kennen, was erhalten ist, und man sich nicht vorstellen kann, daß viel Bedeutenderes fehlt. »Noli perturbare circulos meos« kann vielleicht als paradoxe Reaktion bei manchen Soldaten Verwirrung auslösen, aber die Schwerkraft oder die Zeit werden sich davon nicht beeindrucken lassen.
    Niemand anderes kann die Arbeit tun, die vor einem liegt. Das ist vielleicht doch ein Unterschied zu anderen Arbeiten, die Spiegel-Bestsellerliste könnte auch jeder andere vollschreiben, Journalisten wird ja sogar beigebracht, einen austauschbaren Stil zu pflegen. Aber die »Recherche« kann nur einer schreiben. Umso größer die Angst vor einem Gehirnschlag. So, wie man ja auch, wenn man unglücklich liebt, das Ende dieser Liebe fürchtet, weil es sich erst einstellen kann, wenn man ein anderer geworden ist. Selbst die Heilung von einer unglücklichen Liebe bedeutet Tod.
    Also schnell an die Arbeit! Aber wieviele Werke muß man hinter sich auftürmen, um sich über die verlorene Lebenszeit zu trösten? Was für eine heroische Geduld, sich nicht in Aktivitäten zu verlieren, die das eigene Talent gestatten würde, sondern zu warten, bis alles in einem gereift ist. Wobei Marcel hier seine Trägheit zu Hilfe gekommen ist, die ihn » vor allzu leichtem Schreiben geschützt hatte «. Und man ist einsam! » Niemand verstand das Geringste davon. « Man vernachlässigt seine sozialen Pflichten, man ist einfach nicht mehr in der Lage, Briefe zu beantworten. Man wird mißverstanden, es wird einem unterstellt werden, man grabe » nach Einzelheiten «, wo man » große Gesetze « sucht.
    Und auch die Bücher, die man abergläubisch liebt, sind keine Führer. Man kann, » was man liebt, nur wiedererschaffen, indem man ihm entsagt «. Nicht einmal der Verstand ist immer ein guter Wegweiser. Denn man muß die Töne an die richtige Stelle setzen und sich enthalten, » sie von ihrer Ursache loszulösen, der unser Verstand sie

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