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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Ich hätte es wissen müssen, ich arbeitete schließlich mit Falko Hennig zusammen! Dann kamen die Absagen von Gästen, denn der Clou sollte ein Stargast sein, der für uns einen Monat lang Tagebuch schrieb. Karl Dall führte fadenscheinige Gründe an, Sven Regener behauptete, das Konzept sei ihm zu exhibitionistisch, Judith Holofernes wurde von ihrem Management abgeschirmt, Charlotte Roche und Sarah Kuttner reagierten nicht, Wladimir Kaminer wollte »vom Vorlesen wegkommen«. Rühmliche Ausnahme war Judith Hermann, die sofort zusagte, aber als ich ihr irgendwann erklärte, daß wir nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit lesen würden, sondern vor möglichst viel Publikum, bekam sie Angst, was ja eigentlich sehr sympathisch ist, aber schlecht für uns, denn sie warf wie erwähnt eine Münze, und wir hatten Pech (das heißt, wahrscheinlich hatte Falko Pech, bei mir wäre die Münze sicher richtig gefallen). Am liebsten hätte ich ja die Oma aus meinem Haus eingeladen, deren Tagebuch mich in der Tat interessieren würde, aber würden wir mit ihr den Saal füllen? Und war es überhaupt möglich, mit Falko eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu realisieren?
    Am 31. Januar soll es endlich soweit sein, wenn Falko sich nicht vorher wieder beim Kauf einer Bockwurst das Genick bricht wie vor zwei Jahren. Am Ende sitze ich allein im »Babylon«, und sie halten mich für ihn und bewerfen mich mit Tomaten! Warum machen wir das überhaupt? Erniedrigende Anrufe und demütigende Treffen mit Sponsoren, die nie von uns gehört haben und auf Anfragen zehn Mal nicht reagieren, um beim elften Mal zu fragen, worum es nochmal ging? Tausend Entscheidungen über Flyergestaltung, Pressetexte, Fotoauswahl, Termine. Endloser Mailverkehr mit vergeßlichen Gästen, beängstigende Auslagen für Licht, Ton, Technik, Werbematerial, Grafiker, Gasthonorar! Ich wollte doch nur unsere Chroniken vorlesen! Und jetzt planen wir eine Multimediashow, wobei wir noch nicht wissen, ob unsere Computer S-Video oder VGA haben, was wohl wichtig sein soll für eine Multimedia-Show. Warum macht man das? Weil es schade wäre, es nie versucht zu haben? Oder weil ich eine Pankowerin mit einem Erfolg doch noch überzeugen könnte?
    Die wiedergefundene Zeit, S. 105–126
    Eine früh im Jahrhundert beschriebene Erfahrung, » daß der Tod von Millionen Unbekannten kaum und beinahe weniger unangenehm als ein Luftzug unsere seelische Epidermis berührt «. Madame Verdurin leidet zum Beispiel weit mehr unter ihrer Migräne, die sie bekommt, » weil sie morgens keine Hörnchen mehr in ihren Milchkaffee tauchen konnte «. Cottard, der zum zweiten Mal wiederauferstanden ist, schreibt ihr ein Attest, und sie darf sich die rationierten Croissants aus einem Restaurant kommen lassen.
    Aus reinem Widerwillen gegen die patriotischen Floskeln der Franzosen und ihrer Presse, hält Charlus eher zu den Deutschen. Die Fehler der eigenen Leute fallen einem eben unangenehmer auf. In den Zeitungen literarisieren Autoren das Zeitgeschehen, die die Länder und Herrscher, von denen sie schreiben, nie gesehen haben. Ausdrücke fallen, wie der von der Notwendigkeit einer » wissenschaftlichen Barbarei, wenn wir den Krieg gewinnen wollen «. Monsieur Norpois fordert in seinen Artikeln den Kriegseintritt Rumäniens oder Bulgariens: » Es ist augenscheinlich, daß die Völker, die erst dem Siege zu Hilfe eilen, dessen strahlendes Morgenrot sich bereits am Horizont abzuzeichnen beginnt, nicht auf die Belohnung rechnen können. « Natürlich sehen die Menschen alles durch die Brille ihres jeweiligen Blatts. Charlus kennt dagegen die beteiligten Herrscher persönlich oder ist mit ihnen verwandt. Und Kaiser Franz-Joseph, der ihn als Vetter behandelt, hat er seit Kriegsbeginn nicht mehr geschrieben, » fuhr er fort wie jemand, der kühn einen Fehler eingesteht, von dem er weiß, daß man ihn nicht wohl deswegen tadeln kann «.
    Hinzu kommt, daß er auch über ihre sexuellen Absonderlichkeiten auf dem laufenden zu sein behauptet. Mit Konstantin von Griechenland ist er vor seiner Hochzeit » recht gut bekannt gewesen «. Kaiser Nikolaus soll » eine große Schwäche für ihn « hegen. Der Zar von Bulgarien » ist mir sehr zugetan «. Sie sind also alle » so «. Und so erklärt es sich auch, daß Ferdinand von Coburg, der Zar von Bulgarien, der » mutmaßlich ähnliche Beziehungen « zu Kaiser Wilhelm unterhält, sich mit seinem Land auf die Seite Deutschlands und der » Raubstaaten « geschlagen hat. Eine

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