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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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unorthodoxe Erklärung für das Zustandekommen internationaler Allianzen.
    Unklares Inventar:
    – Einfliegende »Gothas«, Berloque (Militärsignal), Vauquois (Schlacht), Germano-Turanier (Schimpfwort), Caillaux (mutmaßlicher Verräter und ein »Giolitti Frankreichs«), Giolitti, Venizelo.
    Zeitgenössische Gesten:
    – Der Zeitung kleine Stupse geben, damit man sie aufgeschlagen halten kann, ohne die mit dem Eintauchen des Hörnchens beschäftigte Hand zu benutzen.
    Verlorene Praxis:
    – Jeden Abend nicht nur die Situation der Armeen, sondern auch der Flotten durchsprechen.
    167 . Do, 11.1., Berlin
    Nachtfahrt aus Neubrandenburg nach Berlin. Von einem Aufprall wache ich auf, wir haben einen Fuchs überfahren. Beim Halt entferne ich mich ein paar Schritte aus dem Scheinwerferlicht, es ist windig und man kann sich vorstellen, wie wenig man der Situation gewachsen wäre, wenn man hier ausgesetzt würde. Den Kopf gegen die kühle Scheibe lehnen, ins Dunkel sehen und auf das Brummen des Motors hören wie auf den langen Busfahrten durch Bosnien, nur daß der Fahrer keinen Turbo-Folk hört und mein Sitznachbar nicht raucht. Ich bin niedergeschlagen, weil ich bei unserer Lesung im Vergleich zu den anderen nicht angekommen bin. Die Zuschauer schlucken mich wie eine bittere Pille. Erfolg ist immer ein Mißverständnis. Es fällt mir immer schwerer, vor Menschen aufzutreten, die offensichtlich nicht lesen.
    Aus Angst vor Zurückweisung wählt man dann seine zynischsten Texte aus, weil man weiß, daß man mit Emotionen befremden würde. Den Fehler macht man ja auch bei Frauen, die meist nicht durchschauen, warum man so abweisend ist. Allerdings heißt es von Larry David, er habe bei manchen seiner frühen Stand-up-Auftritte das Publikum gemustert, »I don’t think so« gesagt und sei ohne ein Wort wieder von der Bühne verschwunden. Dafür ist er heute legendär. Aber er hat es auch geschafft, eine ganz von seinem Geist geprägte Sitcom zu produzieren, deren letzte Folge ein Drittel aller Amerikaner geguckt hat.
    Man kämpft im Unterhaltungsbereich nicht weniger um seine künstlerische Integrität, als wenn man neo-expressionistische Inzestdramen für deutsche Stadttheater schreibt. Nur daß man wirtschaftlich denken und trotzdem glücklich werden muß mit seiner Arbeit.
    Ein Zuschauer sagte nach der Lesung zu mir: »Der eine von euch ist doch viel besser angekommen als die anderen, da solltet ihr vielleicht nicht zusammen lesen.« »Ich will aber gar nicht ankommen.« »Und noch ein Tip: Axel Hacke.« »Was ist mit dem?« »Der macht das gut.« »Ich will es aber schlecht machen.«
    Er meinte wohl, ich sollte mal bei Axel Hacke nachlesen, wie man schreiben muß, damit es ihm gefällt. Wie tief ist man gesunken, daß man überhaupt so eingeordnet wird. Ich nehme mir dann immer vor, nur noch Texte zu schreiben, die niemand gut findet. Andererseits muß man doch jeden irgendwie erreichen können, wie Arznei oder Alkohol ja auch in die Blutbahn gelangen, unabhängig von Bildung oder Persönlichkeit. »Multi te laudant, ecquid habes cur placeas tibi, si is es quem intellegant multi? Introrsus bona tua spectent.«
    Bis man plötzlich losrennt wie ein Fußgänger, der seine Bahn kommen sieht und sich freut, wenn er sie noch schafft, denn er hat etwas erreicht im Leben, wenn auch nur eine Bahn. Dann schreibt man wieder einen neuen Text, der einen für eine Weile elektrisiert und von dem man glaubt, daß die Zuschauer ihn lieben werden. Aber vorerst muß ich noch an den Fuchs denken, den ich einen Moment lang beneidet hatte, weil es für ihn vorbei war.
    Die wiedergefundene Zeit, S. 126–146
    Marcel geht mit Charlus über die Boulevards, und Charlus bedauert den Verlust an lebendiger Schönheit durch die vielen Opfer, die der Krieg unter den jungen Männern fordert. Man werde beim Nachtmahlen im Restaurant nur noch » von rachitischen, kneiferbewehrten Gestalten « bedient, die aus offensichtlichen Gründen zurückgestellt worden seien, oder gar von Frauen. Nichts Erfreuliches, um sein Auge darauf ruhen zu lassen. Schuld ist » das Abströmen aller Männer an die Front, durch das infolge einer Saugwirkung während der ersten Mobilmachungszeit in Paris eine Art von Leere entstanden war «. Auch unbelebte Schönheit hat zu leiden, die Kirche von Combray ist von den Franzosen gesprengt worden, weil sie den Deutschen als Beobachtungsposten diente. Unerträglich sei, daß jedes Land dasselbe sage. Mit denselben Argumenten, die man dem

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