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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Zartgefühl und sein eines Heiligen würdiges, ungewöhnliches Feingefühl durchaus begriffen hat. Aber trotzdem schreibt er für die Zeitung parodistische Pamphlete gegen Charlus, die von Madame Verdurin vervielfältigt und weiterverbreitet werden.
    Madame Verdurin betrachtet den Krieg im übrigen » als eine Art von gigantischem ›Langweiler‹« , der ihr ihre Getreuen abspenstig macht, zum Beispiel Cottard (der ja seit ein paar hundert Seiten wieder lebt), er stirbt offiziell im Krieg, in Wirklichkeit aber an Altersschwäche.
    Durch die Frauen hat Marcel gelernt, daß man Worten nicht immer glauben darf. Das gilt im menschlichen Bereich wie in der Politik. » Aber seitdem das Leben mit Albertine und mit Françoise mich daran gewöhnt hatte, bei beiden Gedanken und Pläne zu vermuten, die sie nicht in Worte kleideten, ließ ich mich durch keine auch noch so überzeugend klingenden Reden von Wilhelm II., von Ferdinand von Bulgarien, von Konstantin von Griechenland in meinem Instinkt mehr täuschen. « Das schlichte, männliche Gemüt bekommt von den Frauen komplexes Denken gelehrt.
    Verstorben:
    – Madame de Villeparisis, Cottard (zum zweiten Mal), Monsieur Verdurin.
    Unklares Inventar:
    – Bressant, Delaunay (Schauspieler). Mangin, Arthur Meyer, Zuaven, die Schärpe der Marienkinder, Deschanel.
    Verlorene Praxis:
    – Kühne Vorstöße zur Kunst unternehmen.
    – In die Sitzung der Académie Française gelaufen kommen, wenn Deschanel spricht.
    166 . Mi, 10.1., Berlin
    Falko Hennig war einer der ersten Autoren, die mir auf den Berliner Lesebühnen aufgefallen sind, als ich noch ausschließlich Zuschauer war. Um Papier zu sparen, las er seine Texte vom Laptop ab und trug dabei oft kurze Hosen und Sandalen. Manchmal verschenkte er an Interessierte aus dem Publikum Kram aus seiner Wohnung, der ihm zu schade zum Wegwerfen war. Sein erstes Buch »Alles nur geklaut« präsentierte die DDR über eine Kleinkriminellenkarriere, wie wir sie damals zwangsläufig alle hatten. Der erste Satz lautet: »Bei mir hat es im Kindergarten angefangen.« Bei mir auch! Einmal berichtet der Held, wie er sich beim Altstoffhändler heimlich im Altpapierberg eine Höhle baut, in der er ganze Tage umgeben von alten Zeitungen verbringt (sogar welchen aus dem Westen). Und beim Versuch, im Palast der Republik einzubrechen, um in die ausverkaufte Loriot-Vorstellung zu kommen, landet er in der Volkskammer. Bei den meisten Episoden stand ich sozusagen direkt daneben, Loriot habe ich zum Beispiel damals durch Zufall vom Palasthotel (inzwischen abgerissen) zum Palast (bald abgerissen) gehen sehen, die Kartensuchenden standen bis zur Spandauer Straße, einer fragte sogar Loriot selbst nach einer Karte.
    Was mir Falko Hennig so sympathisch macht, ist seine fast makellose Erfolglosigkeit, wenn man einmal davon absieht, daß er unverwechselbare Texte schreibt. Ich glaube, er gehört zu den wenigen Autoren, denen Geld nichts anhaben könnte. Dann würde er vielleicht auch wieder Gedichte schreiben, die er inzwischen für ökonomisch unsinnig hält.
    Alle Maßnahmen, den Erfolg zu erzwingen, mißlingen ihm: Wenn er 1 000 Werbekarten verschickt, kommen 999 zurück, weil die Straßen umbenannt worden sind. Wenn er für eine Pressekonferenz ein Buffet organisiert, ist gerade Champions-League-Finale. Seine Filmkamera und die Fototasche, die er immer mit sich führt, falls ihm das Pressefoto des Jahrhunderts gelingen sollte, läßt er alle paar Tage irgendwo liegen. Wenn er sich an einen Cafétisch setzt, gehen die Gläser an den Nachbartischen zu Bruch. Er nutzt die Gelegenheit, um die Geschädigten mit Flyern für seine nächsten Veranstaltungen zu trösten.
    Falko Hennigs Tagebuch ist ein Epos von Katastrophen, Zumutungen und Selbstbeschwörungen zur Arbeit, es enthält aber auch herrliche Beschimpfungen, Drohbriefe und Krankenberichte, die von der Komik des Lamentos leben. Daß ich vor fünf Jahren selbst angefangen habe, nach einer längeren Pause wieder Chronik zu schreiben, geschah auf seine Anregung hin. Mein Traum war es immer, beide Versionen der Wirklichkeit in einer Lesung gemeinsam zu präsentieren, daraus entstand die Idee der »Weltchronik«.
    Seit einem Jahr denken wir nun über diese Veranstaltung nach. Zunächst gab es keinen Raum, weil die in Frage kommenden Orte abenteuerliche Konditionen bieten. Dann hatten wir endlich die Zusage vom »Tränenpalast«, aber eine Woche später erfuhr ich aus der Zeitung, daß er abgerissen werden sollte.

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