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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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sich selbst nicht eingestehen wollen, daß physisches Verlangen auf dem Grunde der Gefühle ruht, die sie aus anderen Quellen herleiten «. (Vielleicht spricht hier aber auch ein bißchen der geprellte Zivilist, denn der Krieg mache » die Hauptstädte, in denen es nur noch Frauen gibt, zu einem verzweiflungweckenden Aufenthalt für Homosexuelle «.) Obwohl Marcel die Haltung von Saint-Loup unendlich mehr bewundert als die von Charlus, ist doch des einen Verlangen » an den gefährlichsten Punkt gestellt zu werden « im Grunde nichts anderes als das Bestreben des anderen, helle Krawatten zu vermeiden. Ein interessanter Gedanke, den man Ernst Jünger ins Grab nachrufen möchte.
    Gilberte reist auf ihr Gut in Tansonville bei Combray und wird dort von den Deutschen überrascht. Sie läßt sich in einem Brief an Marcel (der die meiste Zeit des Kriegs im Sanatorium verbringt) über die vollendete Erziehung der deutschen Stabsoffiziere aus und lobt die deutschen Soldaten, » die nur um die Erlaubnis nachgesucht hatten, sich eines der Vergißmeinnicht abzupflücken, die am Teiche wuchsen «.
    Um die Wege und Hügel, die Marcel in Combray geliebt hat, wird jetzt erbittert gekämpft. Méséglise wird berühmt für eine achtmonatige Schlacht, bei der die Deutschen sechshunderttausend Mann verlieren. Der Weißdornweg, wo Marcel sich in Gilberte verliebt hat, führt zur » berühmten Höhe 307 «, die immer wieder in den Tagesbefehlen auftaucht. Man möchte gar nicht daran denken, für welche melodramatischen Bilder die Filmindustrie solch eine Entwicklung nutzen würde: den Himmel verdunkelnde, heranheulende Jagdflieger, Kindheitsorte, von Bomben verwüstet, ein Schaukelpferd, das eine Treppe herabrollt, hinein in die Feuersbrunst, das halb zerrissene Kleid der einstigen Gespielin unter den Stiefeln der Soldateska.
    So bekommen die persönlichen Erinnerungsorte durch den Krieg im Nachhinein eine historische Bedeutung, wie es bei mir oft genau umgekehrt geschieht, wenn man um den Schloßteich in Kaliningrad joggt und später nachliest, daß hierher die Patienten aus dem benachbarten, brennenden Krankenhaus geschafft wurden. Oder wenn man sich vorzustellen versucht, wie das Kriegsgeschehen in der dörflichen Gegend ausgesehen hat, die man als Kind geliebt hat.
    Unklares Inventar:
    – Rumplertauben.
    Verlorene Praxis:
    – Aus einer Art von seelischem Zartgefühl, das dem Ausdruck allzu tiefer Empfindungen, die einem noch dazu ganz natürlich erscheinen, aus dem Wege geht, gewisse Erklärungen nicht abgeben können.
    – Das eigene Leben leichthin jenem wirklichen inneren Anliegen opfern, unserem wahren Lebenskern, den unsere individuelle Existenz nur wie eine schützende Epidermis umgibt.
    – Sterben und seinen Leuten im Tode noch fanatische Liebe einflößen.
    – Auf ihren Lippen das reinste Französisch erblühen sehen.
    – Durch den Kugelregen laufen, um einen verwundeten Vorgesetzten wegzutragen, dann aber, selbst getroffen, noch im Sterben lächeln, wenn der Stabsarzt sagt, der Graben sei den Deutschen schon wieder entrissen worden.
    – Sich daran gewöhnen, daß der Kopf eines Kameraden, der gerade zu einem spricht, plötzlich von einer Granate getroffen oder ihm sonstwie von der Schulter gerissen wird.
    165 . Di, 9.1., Berlin
    Vielleicht hätte sie lieber einen Mann wie Ulf gewollt, der sich zu DDR-Zeiten von einer Pauschalreise in die Sowjetunion abgeseilt hat und mit einem grünen SV-Ausweis als Paß durchs halbe Land gefahren ist, die sowjetischen Beamten waren von dem Dokument überfordert und ließen ihn überall durch. Im Pamir hat er mit Honig einen Bären angelockt, um ihn zu fotografieren, und wäre dabei fast umgekommen. In der Jugend war er Stürmer. Er schlingt beim Essen, weil er mehrere Brüder hatte und bei ihnen die Regel galt, daß wer seinen Teller leer hatte, bei den anderen mitessen durfte. Er hat inzwischen neun Kinder von sechs Frauen und irgendwann das Schachspielen entdeckt, seit er fünfzig ist, trainiert er wie besessen, jeden Tag fünf Stunden. Er hat im Central Park um Geld gespielt, die russischen Männer dort hatten Großmeisterniveau und lebten vom Schach. Sie besiegten ihre Gegner immer so knapp, daß sie sie nicht entmutigten.
    Unter Ulf wohnte einmal ein Knasti, der nachts immer betrunken nach Hause kam und Radio mit DDR-Nachrichten aufdrehte. Weil er wußte, daß Knastis auf Hierarchien geeicht sind, hat Ulf gar nicht erst gefragt, sondern ihm gleich die Tür eingetreten und den im

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