Schmidt Liest Proust
Packung Tempo
Die wiedergefundene Zeit, S. 146–166
Zur Phänomenologie des Händeschüttelns: » Einen Augenblick jedoch noch, während er sich von mir verabschiedete, drückte Monsieur de Charlus mir die Hand, als wolle er sie zerquetschen, was eine deutsche Eigentümlichkeit aller Leute ist, die so geartet sind wie der Baron, und ein paar Sekunden noch ›massierte‹ er sie mir, wie Cottard es ausgedrückt hätte, als wolle er meinen Gelenken eine Geschmeidigkeit wiedergeben, die sie durchaus noch nicht eingebüßt haben. «
Unter der makellosen Sichel des Monds geht Marcel wie ein Kalif aus seinem geliebten »Tausendundeine Nacht« durch das verdunkelte Viertel, und gelangt schließlich auf der Suche nach Bewirtung zu einem zwielichtigen Hotel, das auf ihn wie ein Spionagenest wirkt. Ist es Saint-Loup, der eben aus dem Gebäude tritt? In einer Bewegung, die » wie der Ausfallversuch eines Belagerten wirkte «? Im Foyer unterhalten sich Männer über den Krieg und über einen Gefangenen, den sie mit Schlägen traktiert haben. Ihr Chef sei losgegangen, um längere Ketten zu besorgen. Hier wird anscheinend jemand gequält, und » mit dem Stolz eines Rechtsbringers und dem Lustgefühl des Poeten trat ich entschlossen in das Hotel «.
Marcel spioniert ein wenig und sieht den Gefangenen, » an sein Lager gefesselt wie Prometheus an seinen Felsen «, die Schläge einer nagelbewehrten Peitsche entgegennehmen und in seinem Blut schwimmen, es ist der Baron de Charlus. Jupien ist auch anwesend und berichtet Charlus, was für Kerle er für ihn aufgetrieben hat. Einen, der Passanten zu Krüppeln geschlagen hat, einen, der bei der Fremdenlegion seinen Sergeanten umgelegt hat. Charlus sind sie aber alle nicht brutal genug, auch nicht der, der in den Mord an seiner Hausmeisterin verwickelt ist, aber da ist noch der, » der in den Schlachthäusern die Ochsen tötet «. Sie alle ähneln für Marcel ein wenig Morel, vielleicht auch einem Idealbild, » dessen Gestalt in den Saphir von Charlus’ Augen eingeschnitten « ist.
Unklares Inventar:
– Ambrine, Klopfpeitsche, in Fresnes gewesen sein.
Überraschende Information:
– Marcel läßt nebenbei fallen, daß er irgendwann beim Militär war.
Verlorene Praxis:
– Wie in Irrenhäusern die Leute nur mit Vornamen nennen.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Die Frivolität einer Epoche wird, wenn zehn Jahrhunderte darüber vergangen sind, zur Materie profundester Gelehrsamkeit. «
169 . So, 14.1., Berlin
Noch im Bett die nächste Woche durchgehen, den Zeitplan nach Lücken absuchen, undichte Stellen im Deich des Verdrängens, den man um sein Gemüt errichtet und durch die Erinnerungen brechen könnten.
Ich denke nicht, daß Menschen, nur weil sie nicht schreiben, stumm bleiben. Viele Bauwerke, die in den letzten Jahren in Berlin errichtet wurden, kommen mir vor wie der Hilfeschrei eines unglücklichen Architekten. Da hat jemand seinen ganzen Kummer und Weltekel in seine Entwürfe gelegt. Und vielleicht kommt deshalb auch manchmal die Bahn zu spät. Oder man wird auf einem Amt schlecht behandelt. Nur daß, was den einen unsterblich macht, den anderen zur Plage für den Kunden werden läßt.
Ich bin so dankbar, daß mir manchmal ein Satz gelingt, man wird ganz demütig. Manche Frau, mit der ich zu tun hatte, nahm es persönlich, wenn ich die Arbeit (mit achtzehn haben wir noch »Werk« gesagt) kategorisch über alles stellte. Ist es nicht schön, mit jemandem zu leben, der ein Ziel hat? Ich versuche zum Beispiel gerade über einen Kosmonauten zu schreiben. Je intensiver ich an ihn denke, umso besser geht es mir.
Es kommt vor, daß man ungewollt die Seiten wechselt und plötzlich jemandem gegenüber in der Position ist, die die Frau zu einem selbst eingenommen hatte. Ein erhellender Perspektivwechsel, wie wenn man sich bückt und durch die Beine guckt. Oder man führt einen Besucher durchs Viertel und muß ihm bei jeder Richtungsänderung kleine Stupse geben, damit er weiß, wohin es geht. Die Reize des eigenen Viertels fallen einem wieder auf. Eigentlich müßte ich Fremdenführer sein, dann würde man mir auch nicht vorwerfen können, zuviel zu reden.
Plötzlich sieht man, wie bedrückend es ist, jemanden verletzen zu müssen. Ich habe allerdings auch immer meine Lehrer verstehen können, sogar meine Offiziere. Irgendwie haben doch alle ihre Gründe.
Sie kommt erst wieder, wenn sie spürt, daß du dich endgültig von ihr gelöst hast, hieß es. Das klingt,
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