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Schmidts Bewährung

Schmidts Bewährung

Titel: Schmidts Bewährung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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Unruhe. Der Fahrer schaltete die Innenbeleuchtung ein, so daß man umrißhaft Gestalten erkennen konnte, die aufstanden, ihre Habseligkeiten einsammelten und sich nach der Gepäckablage reckten. Schmidt musterte sie eine nach der anderen mit angestrengter Konzentration. Vor sehr langer Zeit – war das wirklich schon zwanzig Jahre her? – hatte er in einer Gruppe von Brearley-School-Eltern gestanden und auf den Bus gewartet, der die ganze Klasse von einem Ausflug zurückbringen sollte; als die Mädchen dann nacheinander ausstiegen, hatte er plötzlich festgestellt, daß er sich nicht mehr auf Charlottes Gesicht besinnen konnte. Es war, als hätte er es einfach vergessen. Im selben Moment war sie neben ihm aufgetaucht und hatte ihn umarmt. Er wußte, daß es jetzt etwas anderes war, wenn er sie in dem trüben Licht, durch die gefärbten Busfenster, umgeben von lauter Sommergästen, nicht ausfindig machen konnte; das alles war vollkommen verständlich, aber die Angst, er könne auf schreckliche Weise die Erinnerung an ihre Silhouette, am Ende sogar an ihr Gesicht, verloren haben, war dieselbe. Der letzte Fahrgast stieg aus. Keine Charlotte.
    Ist das der Sechs-Uhr-Bus? fragte er den Fahrer.
    Nö, der Fünf-dreißig. Der Verkehr ist wirklich heftig.
    Wann, schätzen Sie, kommt der Sechs-Uhr-Bus?
    Was weiß ich. Fünfzehn Minuten vielleicht, kann auch länger dauern.
    Das war die schlechteste aller Welten. Wenn er die Schätzung des Mannes für realistisch hielt und nach Hause fuhr, um in einer halben Stunde wiederzukommen, würde er durch den Weg fünfzehn bis zwanzig Minuten verlieren. Außerdem konnte der Bus schnell durchgekommen sein und in Bridgehampton eintreffen, bevor er wieder zurück war, und in diesem Fall würde Charlotte schäumend vor Wut auf dem Bürgersteig warten. Falls sie nicht bei ihm zu Hause anrief. Dann wäre ein erster giftiger Wortwechsel zwischen ihr und Carrie fällig, der Auftakt zu einer ganzen Serie. Andererseits hätte es einen erheblichen Vorteil, wenn er noch einmal nach Hause führe: Er könnte Carrie umarmen und sich von ihr umarmen lassen und einen großen Bourbon trinken. Aber schon der Gedanke an Carries Umarmung wirkte umgehend so wohltuend und beglückend, daß er sich stark genug fühlte, den Aufschub der physischen Verwirklichung noch ein Weilchen auszuhalten. Ein Bourbon war auch im O’Henry’s zu haben. Er könnte sich ans Ende der Theke stellen und alle paar Minuten zwei, drei Schritte Richtung Bürgersteig gehen, um die Bushaltestelle und die Straße dahinter imAuge zu behalten. Aber er mußte Carrie anrufen und ihr Bescheid sagen, daß der Bus Verspätung hatte.
    Die heisere Stimme antwortete: Ist ja cool. Grüß Pete. Ich will mir noch die Haare waschen. Keine Sorge, Dummkopf, ich werd schon fertig. Ich spar mir nur das Föhnen, das ist alles.
    Pete, der Barmann, zwinkert Schmidt zu. Die alte Garde im O’Henry’s zwinkert ihm immer zu – wenn er ins Restaurant kommt oder wenn man sich auf der Straße begegnet. Warum auch nicht? Schließlich ist er der alte Zausel, der den Hauptgewinn abgezockt hat. Dasselbe wie immer für Schmidt? Ja, einen doppelten sour mash, mit viel Eis. Der Alkohol wirkt wie das Eintauchen in eine hohe Welle, die Spannung wird weggeschwemmt. Reinigung und Vergebung. Ein Knoten nach dem anderen löst sich. Das Lokal ist überfüllt, der Lärm nicht auszuhalten, das Crescendo eines wahnsinnig gewordenen Chors. Das Gebrüll kommt von allen Tischen, schwappt nach draußen, auf den Bürgersteig. Pete stellt Schmidt noch eine Frage, aber man kann ihn unmöglich hören. Schmidt lacht zurück und zuckt die Achseln. Gesten funktionieren. Pete schenkt ihm einen Einfachen ein. Der kommt gerade auf die Theke, da sieht Schmidt den gewaltigen Umriß des Busses, der langsamer wird und an der Bordsteinkante anhält.
    Seine Tochter war unverkennbar, wie hatte er auch nur einen Moment lang daran zweifeln können. Ihr klares offenes Gesicht, ein wenig müde, aber wunderschön, das üppige blonde Haar, am Hinterkopf geknotet, der Gang einer Amazone, obwohl sie doch einen Matchsack und eine schwere Aktenmappe trägt; beides nimmt er ihr nun aus den Händen, in der Verlängerung der zärtlichen Geste, die mit einem Kuß begann. Ein kurzer verstohlener Blick auf ihre Kleidung. Beklagenswert: eine womöglich beabsichtigte Parodie auf den Zweireiher – anthrazitgrau mit Nadelstreifen – ihrer männlichen Kollegen. Die Jacke mit den stark wattierten, viel zu breiten

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